RICHARD BOORBERG VERLAG

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15.02.2019

Einkommensteuer

Wohnsitz eines Piloten bei mehrjähriger Auslandsabordnung

EStG § 1

1. Ein Steuerpflichtiger kann gleichzeitig mehrere Wohnsitze i. S. des § 8 AO haben. Diese können im Inland und/oder Ausland belegen sein.

2. Ein Wohnsitz i. S. des § 8 AO setzt nicht voraus, dass der Steuerpflichtige sich während einer Mindestzahl von Tagen oder Wochen im Jahr tatsächlich in der Wohnung aufhält. Auch unregelmäßige Aufenthalte in einer Wohnung können zur Aufrechterhaltung eines dortigen Wohnsitzes führen.

3. Ein inländischer Wohnsitz führt auch dann zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht, wenn er nicht den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen bildet.

Sachverhalt

Der Kläger, ein Pilot, wurde von seinem deutschen Arbeitgeber ins Ausland abgeordnet. Vor der Abordnung und nach der Rückkehr wohnte der Kläger mit seiner Ehefrau, der Klägerin, und seinen zwei Töchtern im eigenen Einfamilienhaus im Inland. Die Kläger ließen im Rahmen des Umzugs einen Teil des Hausrats in das Abordnungsland verbringen, der überwiegende Teil der Möbel blieb jedoch in ihrem Haus. Lediglich im ersten Stock wurde ein Zimmer freigeräumt. Dieses wurde vermietet, wobei die Mieter das restliche Haus teilweise mitbenutzen durften. Der Kläger hielt sich im Zeitraum der Abordnung in 2008 nicht mehr, in 2009 an 22 Tagen, in 2010 an 26 Tagen und in 2011 an einem Tag in seinem Haus auf. Die Klägerin, die inländische Einkünfte erzielte, und die Töchter hielten sich häufiger in dem Haus auf. Das FA ging davon aus, dass die Kläger den inländischen Wohnsitz nicht aufgegeben hätten und erließ – auf Grundlage einer unbeschränkten Steuerpflicht – entsprechende Einkommensteuerbescheide.

Entscheidung des BFH

Dies sah auch der BFH so. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Die Frage, ob eine natürliche Person im Inland einen Wohnsitz hat, beurteilt sich nach § 8 AO. Danach kommt es darauf an, ob die betroffene Person im Inland eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Die Wohnung muss in objektiver Hinsicht dem Steuerpflichtigen jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung stehen und zudem in subjektiver Hinsicht von ihm zu einer entsprechenden Nutzung – d. h. für einen jederzeitigen Wohnaufenthalt – bestimmt sein. In dieser zur objektiven Eignung hinzutretenden subjektiven Bestimmung liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Aufenthaltnehmen in einer Wohnung einerseits und dem Wohnsitz andererseits.

Dass der Kläger sich im Zeitraum seiner Abordnung nur während geringer Aufenthaltszeiten in seinem Haus aufgehalten hat, ist unerheblich. Es ist nicht erforderlich, dass der Steuerpflichtige sich während einer Mindestzahl von Tagen oder Wochen im Jahr tatsächlich in der Wohnung aufhält. Auch unregelmäßige Aufenthalte in einer Wohnung können zur Aufrechterhaltung eines dortigen Wohnsitzes führen. Ebenso unerheblich ist, dass der Kläger daneben – auch – einen Wohnsitz im Abordnungsland hatte. Ein Steuerpflichtiger kann gleichzeitig mehrere Wohnsitze i. S. des § 8 AO haben. Diese können im In- und/oder Ausland belegen sein. Schließlich ist dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht zu entnehmen, dass nur derjenige Wohnsitz zur unbeschränkten Steuerpflicht führt, der zugleich den Mittelpunkt der Lebensinteressen der betreffenden Person darstellt. Vielmehr führt ein inländischer Wohnsitz auch dann zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht eines Steuerpflichtigen, wenn der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sich im Ausland befindet. Auch gibt es keinen „allgemeinen Grundsatz des internationalen Steuerrechts“, nach dem jede Person nur von demjenigen Staat als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden darf, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet. Die Frage der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland ist zu trennen von der Frage, in welchem Vertragsstaat eine Person im Sinne eines DBA als ansässig gilt. Demgemäß ist es entgegen der Ansicht des FG auch ohne Bedeutung, ob es sich bei dem Wohnsitz der Kläger im Abordnungsland um den „Familienwohnsitz“ handelte.

Während das FG noch die für die rein unilateral zu bestimmende unbeschränkte Steuerpflicht des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geltenden Grundsätze auf der einen Seite und die abkommensrechtlichen Regelungen für den Fall der doppelten Ansässigkeit (tie breaker rules), die u. a. auf den Mittelpunkt der Lebensinteressen abstellen (vgl. Art. 4 Abs. 2 Buchst. 1 OECD-Musterabkommen), auf der anderen Seite vermengt hat, hat der I. Senat des BFH – auf Grundlage seiner bestehenden Rechtsprechung – klargestellt, dass es für § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG – soweit das Tatbestandsmerkmal des Wohnsitzes betroffen ist – allein auf das Innehaben ankommt. Wie und wie oft der zur Verfügung stehende Wohnsitz genutzt wird, ist – im Gegensatz zum gewöhnlichen Aufenthalt – unerheblich. Es kann daher ohne Weiteres – wie auch in dem vom BFH entschiedenen Fall – zu Situationen der doppelten Ansässigkeit kommen. Erst im Rahmen der jeweiligen Verteilungsregelung des anwendbaren DBA – und damit für die Frage der Zuweisung des Besteuerungsrechts – ist (u. a.) auf den Mittelpunkt der Lebensinteressen – und damit ggf. auch auf einen „Familienwohnsitz“ – abzustellen.

Praxishinweis

Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass bei einem ins Ausland versetzten Arbeitnehmer das Beibehalten einer eingerichteten Wohnung im Inland eine vom Umfang der tatsächlichen Nutzung unabhängige Vermutung für eine fortdauernde Nutzungsabsicht begründet. Die Feststellungslast liegt demnach beim Steuerpflichtigen. Auch wenn § 90 Abs. 2 AO – da es sich bei dem inländischen Wohnsitz nicht um einen Auslandssachverhalt handelt – keine Anwendung findet, ist zu empfehlen, die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes bereits im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu dokumentieren. Indizien können hier u. a. vollständige Fremdvermietung, Verkaufsbemühungen oder Mitnahme des gesamten Hausrats sein.

Dr. Ruben Martini
Quelle:
BFH, Urteil vom 24.7.2018, I R 58/16, BFH/NV 2019 S. 104