Sachverhalt
Der Kläger, der einen inländischen Wohnsitz unterhielt, war in den Streitjahren (1991 bis 2004) im Inland als selbständiger Rechtsanwalt tätig. Im Jahr 1991 eröffnete er in Brüssel ein Anwaltsbüro in Form einer festen Einrichtung i.S. des Art. 14 Abs. 1 DBA Belgien (selbständige Arbeit), das Verluste erwirtschaftete. Die belgische Finanzverwaltung erteilte für das Büro Brüssel eine Bescheinigung, in der ausgeführt wurde, dass der Kläger bezüglich der Anwendung des DBA Belgien nicht als in Belgien ansässig betrachtet werde, er hinsichtlich aller seiner in Belgien erzielten oder bezogenen Einkünfte nicht der Einkommensteuer von Nichtansässigen unterliege und nicht mehr die Möglichkeit habe, frühere Verluste in Belgien auszugleichen. Das FA vertrat die Auffassung, dass aufgrund der festen Einrichtung in Brüssel Belgien das Besteuerungsrecht zustehe. Die Verluste des Büros Brüssel seien aufgrund der Symmetriethese im Inland lediglich i.R. des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Das FG hingegen entschied, es sei gemäß § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG zu einem Rückfall des Besteuerungsrechts an Deutschland mit der Folge gekommen, dass die Brüsseler Verluste als Betriebsausgaben im Inland abzugsfähig seien.
Entscheidung des BFH
Der BFH verwies die Sache an das FG zurück. Dessen Annahme, das Besteuerungsrecht sei gemäß § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG an Deutschland zurückgefallen, ist nicht von ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getragen. Sind Einkünfte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen nach einem DBA von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen, so wird nach dieser Vorschrift die Freistellung der Einkünfte ungeachtet des DBA nicht gewährt, wenn der andere Staat (hier Belgien) die Bestimmungen des DBA so anwendet, dass die Einkünfte in diesem Staat von der Besteuerung auszunehmen sind oder nur zu einem durch das DBA begrenzten Steuersatz besteuert werden können; die Regelung ist rückwirkend für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen anzuwenden (§ 52 Abs. 59a Satz 6 EStG i.d.F. des JStG 2007).
Die Norm setzt einen sog. (negativen) Qualifikationskonflikt voraus. Dazu kann es kommen, wenn die Vertragsstaaten von unterschiedlichen Sachverhalten ausgehen (Subsumtionskonflikt), wenn sie Abkommensbestimmungen unterschiedlich – ggf. auch rechtsfehlerhaft – auslegen (Auslegungskonflikt) oder wenn sie aufgrund einer Art. 3 Abs. 2 OECD-MA entsprechenden Abkommensvorschrift (Maßgeblichkeit des Rechts des Anwenderstaates für die Abkommensauslegung) Abkommensbegriffe nach ihrem nationalen Steuerrecht unterschiedlich auslegen. Ursache für die Nichtbesteuerung muss danach immer die Anwendung des DBA sein. Nicht ausreichend und den tatbestandlichen Anforderungen nicht genügend ist hingegen eine internrechtliche Steuermaßnahme, wie beispielsweise der Verzicht auf das abkommensrechtlich zugewiesene Besteuerungsrecht. Aufgrund des eindeutigen Wortlauts – und wegen fehlender Anhaltspunkte für ein vom Wortlaut abweichendes Gesetzesverständnis – ist § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG auch auf Verluste anwendbar; die Regelung sieht eine Differenzierung zwischen positiven und negativen Einkünften nicht vor.
Aus den belgischen Bescheinigungen geht aber nicht hervor, dass Belgien das DBA mit der Folge der Nichtbesteuerung der auf das Büro Brüssel entfallenden (negativen) Einkünfte angewendet hat. Dort wird lediglich ausgeführt, dass der Kläger abkommensrechtlich nicht in Belgien ansässig sei. Diese Beurteilung steht aber mit der inländischen Rechtsanwendung in Einklang. Zudem führt die Aussage der belgischen Behörden nicht dazu, dass die Einkünfte bei der belgischen Ertragsbesteuerung auszunehmen sind. Hiervon ist in den Bescheinigungen nur insoweit die Rede, als die Einkünfte nicht der Einkommensteuer von Nichtansässigen unterliegen. Einen abkommensrechtlichen Bezug hat diese Aussage nicht, vielmehr scheint es insoweit – was für § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht ausreicht – um den Anwendungsbereich der nationalen (belgischen) beschränkten Einkommensteuerpflicht zu gehen.
Praxishinweis
Soweit § 52 Abs. 9 EStG nach § 52 Abs. 59a Satz 6 EStG i.d.F. des JStG 2007 für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen anzuwenden ist, handelt es sich um eine Rückwirkung. Jedoch war der BFH nicht gehalten, über deren Verfassungskonformität zu entscheiden. Es handelte sich im Streitfall um eine rückwirkende Regelung zu Gunsten des Steuerpflichtigen, da die Rechtsposition des Klägers dadurch verbessert wurde, dass die Regelung ggf. eine sonst nicht zu gewährende Verlustberücksichtigung bei der Ermittlung des Einkommens ermöglichen kann. Soweit jedoch eine rückwirkende Anwendung zu Lasten des Steuerpflichtigen in Rede steht, ist eine Berufung auf den AdV-Beschluss des BFH vom 19.5.2010, I B 191/09 (BStBl II 2011 S. 156, BFHE 229 S. 322,) zu empfehlen, wonach ernstlich zweifelhaft ist, ob § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 sowie § 52 Abs. 59a Satz 6 EStG i.d.F. des JStG 2007 mit dem Grundgesetz vereinbar sind und daher vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren ist.
Soweit im Streitfall die Herausnahme der Einkünfte des Büro Brüssel aus der belgischen Besteuerung auf der Anwendung unilateralen belgischen Rechts beruht haben sollte, kann zwar auch die beschränkte Reichweite der persönlichen Steuerpflicht im ausländischen Staat nach § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG einen Besteuerungsrückfall auslösen. Diese Regelung wurde jedoch erst im Jahr 2007 ohne rückwirkende Anwendungsbestimmung eingeführt und war deshalb für den BFH aus zeitlichen Gründen unbeachtlich. Für Streitjahre ab 2007 macht es hingegen für die Berücksichtigung ausländischer Verluste im Inland keinen Unterschied, ob die unterbliebene Besteuerung im Ausland aus der Anwendung eines DBA oder des unilateralen ausländischen Steuerrechts folgt.