RICHARD BOORBERG VERLAG

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25.09.2025

Schwerbehindertenrecht

Heilungsbewährung im Schwerbehindertenrecht

Schutz auf Zeit oder ungewisse Zukunft

Die Heilungsbewährung ist ein besonderes Instrument im Schwerbehindertenrecht, das schwer erkrankten Menschen vorübergehend einen höheren Grad der Behinderung (GdB) und damit den Schwerbehindertenstatus zuerkennt. Gerade nach Krebsbehandlungen oder Organtransplantationen wird Betroffenen so rasch Schutz und Unterstützung gewährt, obwohl das Ausmaß der dauerhaften Behinderung noch ungewiss ist. 

von Christian Wagner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht, Gernsbach

Einleitung

Die Heilungsbewährung ist ein besonderes Instrument im Schwerbehindertenrecht, das schwer erkrankten Menschen vorübergehend einen höheren Grad der Behinderung (GdB) und damit den Schwerbehindertenstatus zuerkennt. Gerade nach Krebsbehandlungen oder Organtransplantationen wird Betroffenen so rasch Schutz und Unterstützung gewährt, obwohl das Ausmaß der dauerhaften Behinderung noch ungewiss ist. Dieser Aufsatz beleuchtet zunächst die rechtlichen Grundlagen und den Begriff der Heilungsbewährung. Anschließend wird dargestellt, welche Bedeutung sie für Betroffene, Leistungserbringer und Arbeitgeber hat und wie das Verfahren abläuft. Abschließend werden wichtige Gerichtsentscheidungen und aktuelle Entwicklungen – etwa Reformdiskussionen unter Berücksichtigung des aktuellen Referentenentwurfs vom 18.12.2024 – behandelt.

 

I. Dogmatische Analyse der Heilungsbewährung

1. Begriff und Konzept der Heilungsbewährung

Der Begriff Heilungsbewährung bezeichnet im Schwerbehindertenrecht einen Wartezeitraum nach Abschluss einer Erstbehandlung, in dem abgewartet wird, ob eine schwere Erkrankung erfolgreich überwunden ist oder ein Rückfall eintritt. Typischerweise kommt dieses Konzept bei Krankheiten mit unsicherer Prognose zur Anwendung – vor allem nach malignen Tumorerkrankungen (Krebserkrankungen) und nach Organtransplantationen.1 Während der Heilungsbewährungszeit wird den Betroffenen ein pauschaler GdB zuerkannt, der meist deutlich höher ist, als er aufgrund der tatsächlich verbleibenden Funktionseinschränkungen zum Zeitpunkt der Erstbehandlung wäre.Auf diese Weise erhalten Betroffene unmittelbar den Schwerbehindertenstatus (regelmäßig GdB 50 oder mehr) und die damit verbundenen Nachteilsausgleiche, ohne jede einzelne Beeinträchtigung bereits nachweisen zu müssen. Die Heilungsbewährung ist somit kein Garant einer tatsächlichen Heilung, sondern ein Ausdruck rechtlicher Fürsorge: Sie trägt den erfahrungsgemäß vielfältigen körperlichen, seelischen und sozialen Belastungen Rechnung, die mit Diagnose, Behandlung und Nachsorge einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen.3 Nach den allgemeinen Grundsätzen der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)4 umfasst die Heilungsbewährung einen Zeitraum von in der Regel fünf Jahren nach erfolgreicher Primärtherapie (z.B. Operation), in dem ein höherer GdB gerechtfertigt ist als es dem tatsächlichen Schaden entspricht.

Gemäß dem aktuellen Referentenentwurf zur Änderung der VersMedVsollen diese Grundsätze nun noch klarer im Allgemeinen Teil verankern und präzisieren. So definiert der Entwurf die Heilungsbewährung ausdrücklich als einen begrenzten Zeitraum nach Behandlung, in dem aufgrund der Ungewissheit des künftigen Verlaufs der GdB vorübergehend pauschal höher festgesetzt wird, als es den tatsächlichen Funktionseinbußen entspricht. Nach Ablauf der Heilungsbewährung wird bei komplikations- und rezidivfreiem Verlauf der GdB auf Grundlage der dann verbleibenden Teilhabebeeinträchtigung neu bestimmt; tritt hingegen ein Rückfall auf oder wird eine Re-Transplantation nötig, beginnt die Heilungsbewährung erneut. Zugleich stellt der Entwurf klar, dass die Heilungsbewährungszeit im Regelfall fünf Jahre beträgt und dass etwa ein Carcinoma in situ6 grundsätzlich keine Heilungsbewährung rechtfertigt. Diese Änderungen sind bislang jedoch nur geplant und noch nicht in Kraft.

2. Rechtsgrundlagen: § 152 SGB IX, § 48 SGB X und VersMedV

Rechtsgrundlage für die Feststellung eines GdB und der Schwerbehinderteneigenschaft ist § 152 SGB IX. Nach dieser Vorschrift stellt die zuständige Behörde (meist die Versorgungsverwaltung) auf Antrag einer Person das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Ein Antrag ist also zwingende Voraussetzung; von Amts wegen erfolgt eine Erstfeststellung nicht. Sobald eine Schwerbehinderung anerkannt wird, wirkt diese auf den Antragstellungszeitpunkt zurück – ab diesem Tag gelten z.B. bereits der besondere Kündigungsschutz und andere Schutzvorschriften. Es empfiehlt sich daher, den Antrag im Falle einer schweren Erkrankung so früh wie möglich zu stellen, gegebenenfalls schon während des Klinikaufenthalts oder der Reha. Für den Antrag auf Heilungsbewährung ist es sinnvoll, gleich aussagekräftige ärztliche Berichte (z.B. Entlassungsberichte mit Diagnosen und Tumorklassifikation) beizufügen, um das Vorliegen der Voraussetzungen eindeutig zu belegen. Eine spezifische gesetzliche Norm, die den Begriff „Heilungsbewährung“ selbst definiert, existiert im SGB IX zwar nicht – das Konzept ergibt sich aber aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Anlage zu § 2 VersMedV) und der darauf basierenden Verwaltungspraxis. Die VersMedV normiert ausdrücklich, dass in bestimmten Fällen eine Heilungsbewährung abzuwarten ist. So heißt es in Teil A 3 Nr. 2 Buchst. h) VersMedV: „Die Notwendigkeit des Abwartens einer Heilungsbewährung stellt eine andere Situation dar; während der Zeit dieser Heilungsbewährung ist ein höherer GdS gerechtfertigt, als er sich aus dem festgestellten Schaden ergibt.“. Bereits hier wird deutlich, dass die Heilungsbewährung eine Ausnahme vom Grundsatz darstellt, zukünftige Gesundheitsentwicklungen nicht in die Bewertung einzubeziehen. Ferner bestimmt Teil A Nr. 7 Buchst. b) VersMedV: „Nach Ablauf der Heilungsbewährung ist auch bei gleichbleibenden Symptomen eine Neubewertung […] zulässig, weil der Ablauf der Heilungsbewährung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse darstellt.“ Diese Regelung verweist auf § 48 Abs. 1 SGB X als rechtliche Grundlage, um einen einmal zuerkannten GdB-Bescheid bei geänderter Sachlage wieder abändern zu können. § 48 SGB X erlaubt der Behörde, einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – wie einen Schwerbehindertenausweis – aufzuheben oder abzuändern, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben. Nach gefestigter Auffassung7 stellt der erfolgreiche Ablauf der Heilungsbewährungszeit ohne Rückfall eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse dar. Mit anderen Worten: Die zunächst pauschal höher bewertete Behinderung kann nachträglich herabgesetzt werden, sofern die besonderen Risiken und Belastungen der Heilungsphase entfallen sind.Dieses Prinzip ist nun auch in der VersMedV fest verankert. Im Zuge der jüngsten Reform wird die Heilungsbewährung sogar als eigener Abschnitt in Teil A der VersMedV aufgenommen, was ihren Stellenwert weiter erhöht.9 Teil B Nr. 1 Buchst. c) VersMedV schreibt vor, dass eine Heilungsbewährung abzuwarten ist bei bestimmten Erkrankungen (Transplantationen, bösartigen Tumoren etc.), während Teil B in den jeweiligen Kapitelabschnitten konkrete Zeiträume und GdB-Werte für die Heilungsbewährung bei einzelnen Diagnosen nennt. Zusammengefasst stützt sich die Heilungsbewährung damit auf eine Kombination aus den materiellen Vorgaben der VersMedV und den verfahrensrechtlichen Instrumenten des SGB X.

3. Systematische Einordnung im Schwerbehindertenrecht

Systematisch betrachtet ist die Heilungsbewährung eine Sonderregelung innerhalb des Feststellungsverfahrens der Behinderung, die dem Schutzzweck des Schwerbehindertenrechts Rechnung trägt. Üblicherweise wird der GdB streng nach dem Maß der dauerhaften Teilhabebeeinträchtigung bemessen – das heißt, es werden nur solche Gesundheitsstörungen berücksichtigt, die für längere Zeit (mindestens 6 Monate) bestehen (§ 2 Abs. 1 SGB IX).10 Bei der Heilungsbewährung hingegen weicht man von diesem Dauerhaftigkeitsprinzip bewusst ab: Obwohl zum Zeitpunkt der Erstfeststellung nach erfolgreicher Behandlung möglicherweise keine oder nur geringe bleibende Funktionseinbußen vorliegen, wird dennoch ein GdB (häufig 50 oder höher) allein aufgrund der schweren Erkrankung und ihrer ungewissen Ausheilung prognostisch zuerkannt.11 Teleologisch zielt die Regelung darauf ab, den Betroffenen in einer vulnerablen Phase zu unterstützen und ihnen frühzeitig den Schwerbehindertenschutz zukommen zu lassen. Dies erleichtert z.B. die berufliche Wiedereingliederung nach schwerer Krankheit und gewährt einen Kündigungsschutz, wenn der Gesundheitszustand noch instabil ist. Die Heilungsbewährung ist damit ein Instrument des sozialen Entschädigungsrechts, das eine Brücke zwischen dem medizinischen Genesungsprozess und der rechtlichen Anerkennung einer Behinderung schlägt. Sie ist in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen12 verankert – einer untergesetzlichen Normsetzung – und wird von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seit Langem anerkannt und ausgestaltet (dazu sogleich). Innerhalb des Schwerbehindertenrechts steht die Heilungsbewährung gleichsam zwischen der anfänglichen Feststellung einer Behinderung und der Möglichkeit ihrer späteren Aufhebung oder Anpassung. Man kann sie als temporäre Schwerbehinderteneigenschaft auf Probe charakterisieren. Zugleich ist sie Ausdruck des in § 1 SGB IX formulierten Ziels, behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen: Hier wird potentiell schwerbehinderten Menschen diese Teilhabe bereits während einer kritischen Bewährungszeit gewährleistet.

4. Unterschiede zur regulären GdB-Bewertung

Die Heilungsbewährung unterscheidet sich deutlich von der regulären GdB-Feststellung. Erstens erfolgt im Rahmen der Heilungsbewährung eine pauschalierte Bewertung13: Anstatt konkret nur die bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen, wird ein Erfahrungswert angesetzt, der allen typischerweise mit der Krankheit verbundenen Belastungen Rechnung trägt. So fließen beispielsweise bei einer Krebserkrankung nicht nur der Organverlust oder aktuelle Behandlungseffekte in die Bewertung ein, sondern auch Faktoren wie die körperliche Erschöpfung durch Chemo- oder Strahlentherapie und die psychische Belastung (Angst vor Rückfällen, Ungewissheit)14. Zweitens setzt die Heilungsbewährung die üblichen zeitlichen Voraussetzungen herab: Normalerweise muss eine Beeinträchtigung voraussichtlich länger als sechs Monate bestehen, um als Behinderung zu gelten (§ 2 Abs. 1 SGB IX).15 Bei Erkrankungen, die einer Heilungsbewährung unterliegen, greift diese 6-Monats-Regel faktisch nicht. Die Betroffenen müssen also nicht erst ein halbes Jahr abwarten, bevor ein Antrag Erfolg haben kann – vielmehr wird die Schwerbehinderung unmittelbar nach der Erstbehandlung16 zuerkannt, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht feststeht, ob bleibende Schäden vorliegen. Drittens ist die Heilungsbewertung von vornherein vorläufig: Der zunächst festgestellte GdB ist nicht „für immer“ garantiert, sondern soll nach Ablauf der Frist überprüft werden. Im Gegensatz zu einer regulären GdB-Feststellung, die grundsätzlich unbefristet gilt (bis eine Änderung eintritt), ist hier von Anfang an klar, dass eine Nachprüfung erfolgen wird. Die Verwaltungspraxis kann dies entweder durch einen befristeten Feststellungsbescheid ausdrücken (mit zeitlicher Begrenzung des Schwerbehindertenausweises) oder – häufiger – durch einen unbefristeten Bescheid mit intern vorgemerkter Überprüfung nach z.B. fünf Jahren. In beiden Fällen ist allen Beteiligten bewusst, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Schwerbehinderteneigenschaft handelt. Viertens schließlich bestehen Unterschiede im Nachweis: Während bei der regulären GdB-Bemessung alle geltend gemachten Gesundheitsstörungen nach Aktenlage oder Begutachtung genau geprüft werden müssen, genügt es bei der Heilungsbewährung in der Regel, die schwere Grunderkrankung nachzuweisen. Konkrete weitere Funktionsbeeinträchtigungen müssen nicht im Einzelnen belegt werden. Die VersMedV sieht für die häufigsten Krankheitsbilder feste Einzel-GdB während der Heilungsbewährung vor – die individuelle Beweiserleichterung ist also ein Kernelement. Daraus folgt jedoch auch, dass nach der Heilungsphase eine erneute individuelle Prüfung erfolgen muss (siehe unten II.4.), um wieder zum normalisierten Bewertungsmodus zurückzukehren.

5. Rechtsprechung und wissenschaftliche Diskussion

  • Die Rechtsprechung hat das Institut der Heilungsbewährung maßgeblich geprägt und dessen Grenzen abgesteckt. Bereits in den 1980er und 1990er Jahren hat das Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Grundsatzurteilen die Zulässigkeit einer GdB-Herabsetzung nach abgelaufener Heilungsbewährung bestätigt.17 Ein oft zitierter Fall betraf einen Nierenkrebspatienten, dem aufgrund der Tumorerkrankung und der damit verbundenen Unsicherheiten ein GdB von 80 zuerkannt worden war, obwohl der Organverlust (Entfernung einer Niere) für sich genommen nur einen GdB von 30 bedingt hätte.18 Fünf Jahre nach der erfolgreichen Operation, ohne Anzeichen eines Rezidivs, senkte die Behörde den GdB wieder herab. Das BSG hielt dies für rechtmäßig und führte aus, mit dem rückfallfreien Ablauf von fünf Jahren trete objektiv eine Besserung des Gesundheitszustands ein. Die anfänglich erhöhte Bewertung sei durch die erhebliche Rückfallgefahr und die vielfältigen körperlich-seelischen Auswirkungen der Krebsbehandlung gerechtfertigt gewesen, falle aber weg, sobald diese Gefährdungslage nach medizinischer Erfahrung weitgehend überwunden ist.19 Wörtlich hat das BSG den Charakter der Heilungsbewährung so beschrieben: “Heilungsbewährung erfaßt […] die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es […] bei Krebskrankheiten […] einen GdB von mindestens 50 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zunächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. […] Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen […] nötigt andererseits dazu, den GdB herabzusetzen, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren […] überwunden ist […] und […] die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind“. Damit ist klargestellt, dass sowohl die anfängliche Hochstufung als auch die spätere Herabsetzung integraler Bestandteil des Konzepts Heilungsbewährung sind. Weitere Urteile haben diese Linie bestätigt. So hat das BSG bereits 198920 entschieden, dass es unerheblich ist, ob der Bescheid ausdrücklich auf die Heilungsbewährung hingewiesen hat – entscheidend sind die objektiven Verhältnisse, die eine Erhöhung des GdB getragen haben. Auch das bloße Fortbestehen einer geringfügigen Restbeeinträchtigung hindert die Aberkennung des Schwerbehindertenstatus nicht, wenn die wesentliche Behinderung (etwa die Lebensbedrohung durch Krebs) entfallen ist. In der Literatur und Praxis wird das Institut der Heilungsbewährung überwiegend positiv bewertet, da es als humanitäre Erleichterung für Betroffene in existenziellen Lebenslagen verstanden wird. Es entlastet die schwer erkrankten Personen davon, unmittelbar nach Therapieende umfangreiche Nachweise für einen hohen GdB erbringen zu müssen, und gewährt einen Automatismus zugunsten der Betroffenen. Kritikpunkte diskutiert die Literatur vor allem hinsichtlich der Umsetzung: So wird gefragt, ob die Behörde den Wegfall der Behinderung nach der Heilungszeit automatisch berücksichtigen darf, ohne individuellen Gesundheitszustand zu prüfen – dies wurde jedoch durch die Vorgaben in VersMedV und Rechtsprechung beantwortet: eine pauschale Herabsetzung ist unzulässig, wenn noch relevante Beeinträchtigungen fortbestehen.21 In neueren fachlichen Diskussionen (vgl. Deutscher Behindertenrat)22 wird betont, dass die Heilungsbewährung „unverzichtbar“ für Krebskranke sei und unbedingt erhalten bleiben müsse (). Gleichzeitig wird auf die Problematik hingewiesen, dass bei starren Fristen Betroffene bei Fristablauf Rechte verlieren könnten, obwohl noch Beeinträchtigungen vorliegen. Dieses Spannungsfeld führte jüngst zu Reformüberlegungen (siehe unten III.), die in der wissenschaftlichen Debatte kontrovers bewertet werden. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Heilungsbewährung als dogmatisches Konzept fest etabliert ist – sie wird von den Gerichten anerkannt und durch die VersMedV normativ untermauert. Die geplanten Änderungen der VersMedV bestätigen diese gefestigte Stellung ausdrücklich.

 

II. Praxisorientierte Darstellung der Heilungsbewährung

1. Bedeutung der Heilungsbewährung für die Betroffenen

Für die Betroffenen eröffnet die Heilungsbewährung erhebliche Chancen in einer kritischen Phase ihrer Genesung. Durch die beschleunigte Anerkennung einer Schwerbehinderung können sie sozialrechtliche Nachteilsausgleiche sofort nutzen, ohne den Ausgang der Heilbehandlung abwarten zu müssen. Konkret bedeutet das: Sobald der Schwerbehindertenausweis ausgestellt ist, genießen sie den besonderen Kündigungsschutz des § 168 SGB IX23. Eine vorzeitige Kündigung durch den Arbeitgeber wird damit faktisch sehr erschwert bzw. nahezu unmöglich, denn eine Kündigung bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamt24.25 Gerade Menschen, die nach einer Krebsdiagnose wieder in den Beruf zurückkehren möchten, gewinnen so eine dringend benötigte berufliche Sicherheit in der oft labilen ersten Zeit nach der Therapie. Darüber hinaus stehen ihnen weitere Nachteilsausgleiche zu, z.B. der zusätzliche Urlaub (fünf Arbeitstage pro Jahr)26, Steuererleichterungen27, ein ggf. früherer Renteneintritt28 sowie Vergünstigungen im öffentlichen Personennahverkehr29 oder bei der Kfz-Steuer30.31 Die Schwerbehinderteneigenschaft kann auch im Arbeitsalltag entlastend wirken – etwa durch die Möglichkeit, Rehabilitationsmaßnahmen oder stufenweise Wiedereingliederungen mit Unterstützung der Renten- oder Krankenversicherung in Anspruch zu nehmen, ohne den Arbeitsplatz zu gefährden. Viele Betroffene berichten zudem von einer psychologischen Entlastung: Der anerkannte Status gibt das Gefühl, vom Sozialsystem gesehen zu werden, und schafft (zumindest zeitweise) Klarheit über die eigene Rechtsposition. Allerdings birgt die Heilungsbewährung auch Risiken bzw. Herausforderungen aus Sicht der Betroffenen. Zum einen ist die Schwerbehinderteneigenschaft nur auf Zeit und der GdB wird nach Ablauf der Bewährungsfrist erneut geprüft. Die Betroffenen müssen sich also frühzeitig darauf einstellen, dass ihnen dieser Status – und damit einige Vorteile – möglicherweise wieder entzogen wird, falls die Erkrankung folgenlos ausgeheilt ist. Zum anderen kann der Schwerbehindertenstatus im Einzelfall auch stigmatisierend wirken oder Befürchtungen wecken, der Arbeitgeber könnte einen als „leistungsgemindert“ ansehen. Diese Aspekte sollten Betroffene in ihre Entscheidung einbeziehen, ob sie die Schwerbehinderteneigenschaft beantragen. Insgesamt überwiegen aber in der Regel die Vorteile: Die Heilungsbewährung bietet einen Schutzraum für die Genesung, ohne dass Betroffene um ihre arbeitsrechtliche Position oder soziale Absicherung fürchten müssen. Sie schafft Zeit, damit sich Gesundheit und Leistungsfähigkeit stabilisieren können. Sollte nach Ablauf der Bewährungszeit weiterhin ein GdB (wenn auch geringer) bestehen, können Betroffene immer noch versuchen, z.B. durch Gleichstellungsantrag (bei GdB 30–40, § 151 SGB IX)32 einen fortbestehenden Kündigungsschutz im Arbeitsleben33 zu sichern.

2. Chancen und Risiken für Leistungserbringer und Arbeitgeber

Auch für Leistungserbringer im Sozial- und Gesundheitswesen sowie Arbeitgeber ist die Heilungsbewährung ein zweischneidiges Instrument. Leistungserbringer – etwa Rehabilitationskliniken, Sozialberatungsstellen oder Integrationsfachdienste – sehen in der frühzeitigen Schwerbehindertenanerkennung oft eine Chance, ihre Klientinnen und Klienten nachhaltig wiedereingliedern zu können. Wenn ein Reha-Patient etwa schon während der Anschlussheilbehandlung als schwerbehindert anerkannt ist, können Reha-Fachkräfte und Sozialdienste diese Information nutzen, um gemeinsam mit dem Arbeitgeber gezielte Maßnahmen zu planen (z.B. Umsetzung an einen leidensgerechten Arbeitsplatz, Beantragung von Hilfsmitteln beim Integrationsamt, etc.). Die Heilungsbewährung kann somit Teil eines ganzheitlichen Teilhabekonzepts sein: Der medizinischen Rehabilitation folgt nahtlos der berufliche Schutz. Für Leistungsträger wie die Rentenversicherung kann das mittelbar positiv sein, weil der Erhalt des Arbeitsplatzes gefördert und Invalidität oder Erwerbsminderung verhindert wird. Risiken oder Herausforderungen für Leistungserbringer liegen hauptsächlich in der Beratungspflicht: Sie müssen Betroffene frühzeitig über diese Möglichkeit informieren. In der Praxis wird dies noch nicht überall optimal genutzt – die Schwerbehinderteneigenschaft wird nach Erfahrungen in der Beratung oft zu spät beantragt. Hier können Krankenhäuser und Reha-Zentren ansetzen und bereits proaktiv Antragsformulare bereitstellen sowie Hilfestellung beim Ausfüllen leisten. Für Arbeitgeber bedeutet die Heilungsbewährung einerseits, dass ihnen plötzlich (ggf. unerwartet) ein schwerbehinderter Mitarbeiter gegenübersteht. Dies ist mit rechtlichen Pflichten verbunden: u.a. der besondere Kündigungsschutz, ein möglicher Anspruch auf behinderungsgerechte Arbeitsplatzgestaltung und Zusatzurlaub. In Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen fließt der Mitarbeiter auf die Pflichtquote von 5% Schwerbehinderten ein.34 Arbeitgeber können die Situation aber auch als Chance begreifen: Durch den Schwerbehindertenstatus des Mitarbeiters lassen sich Fördermittel beantragen (etwa Zuschüsse des Integrationsamts zur Arbeitsplatzanpassung oder Prämien bei Einstellung schwerbehinderter Menschen).35 Zudem entfällt für diesen Mitarbeiter die Zahlung der Ausgleichsabgabe. Viele Arbeitgeber schätzen auch, dass die frühzeitige Rückkehr einer ehemals schwer erkrankten Fachkraft gelingt, weil der gesetzliche Rahmen Unterstützung bietet – dies kann Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements sein. Freilich sehen manche Arbeitgeber in der plötzlichen Schwerbehinderteneigenschaft auch ein Risiko oder mindestens eine Herausforderung in der Personalplanung: Die erhöhte Unkündbarkeit kann als Einschränkung empfunden werden, und es besteht ggf. Unsicherheit, welche Leistungseinschränkungen der Mitarbeiter in der Heilungsphase hat. Hier ist eine offene Kommunikation im Betrieb wichtig. Die Betriebs- oder Personalräte sowie die Schwerbehindertenvertretung (in Betrieben, die eine solche haben) spielen eine wichtige Rolle, um einvernehmliche Lösungen zu finden. Insgesamt gilt: Bei guter Zusammenarbeit können alle Seiten profitieren – der Arbeitnehmer behält seinen Job, der Arbeitgeber hält eine erfahrene Arbeitskraft und profitiert von Unterstützungsangeboten, und das Sozialversicherungssystem muss keine Frühberentung finanzieren.

3. Verfahrensfragen: Antragstellung, Nachweise und Behördenbeteiligung

Antragstellung: Die Heilungsbewährung wird nicht „automatisch“ von Amts wegen gewährt, sondern immer auf Antrag des Betroffenen36 im Rahmen des Schwerbehindertenfeststellungsverfahrens (§ 152 SGB IX). Der Antrag kann formlos gestellt werden, meist gibt es aber standardisierte Formulare der Versorgungsämter bzw. Landesbehörden. Wichtig ist, keine Zeit zu verlieren: Da die Rechtswirkungen der Anerkennung ab Antragseingang37 gelten, sollte der Antrag idealerweise sofort nach der Erstbehandlung gestellt werden. Wie oben erwähnt, gilt die 6-Monats-Frist für das Bestehen von Beeinträchtigungen hier nicht – es reicht aus, dass eine schwere Erkrankung vorliegt, bei der eine Heilungsbewährung abzuwarten ist. Daher kann z.B. ein Krebspatient schon kurz nach der Operation den Antrag einreichen, ohne sechs Monate zu warten. Viele Kliniken und Reha-Einrichtungen unterstützen dabei und leiten den Antrag mit Einwilligung des Patienten direkt an die Behörde weiter.

Nachweise: Zwar muss der Antrag nicht begründet werden, aber es empfiehlt sich, dem Antrag möglichst aussagekräftige medizinische Unterlagen beizufügen, die die Diagnose und den Behandlungsverlauf dokumentieren. Insbesondere bei Beantragung einer Heilungsbewertung ist es sinnvoll, z.B. den histopathologischen Befund eines Tumors mit Angabe der Tumorklassifikation (TNM-Stadium, Grading) oder den OP- und Entlassungsbericht beizulegen. Daraus muss hervorgehen, dass es sich um eine Erkrankung handelt, für die laut VersMedV eine Heilungsbewährung vorgesehen ist (die Behördenvertreter kennen diese Krankheitsbilder, insbesondere alle Arten von bösartigen Neubildungen, Organtransplantationen, bestimmte psychische Erkrankungen oder Suchtkrankheiten). Konkrete Funktionsbeeinträchtigungen – etwa welche Beschwerden der Betroffene momentan hat – müssen nicht im Detail geschildert werden, können aber ergänzend genannt werden. In der Regel fordert die Behörde ohnehin Befundberichte bei den behandelnden Ärzten an. Wichtig ist der Hinweis, dass es um Heilungsbewährung geht, da die Behörde dann weiß, dass die besonderen Bewertungsmaßstäbe der VersMedV anzuwenden sind. Praktisch genügt es, im Antrag unter „Bemerkungen“ zu vermerken, dass es sich z.B. um eine Krebserkrankung nach Erstbehandlung handelt und man daher um Berücksichtigung der Heilungsbewährung bittet. Manche Behörden fragen im Formular gezielt danach, ob die Erkrankung bereits ausgeheilt ist oder noch einer Heilungsbewährung bedarf.

Beteiligung der Behörden: Zuständig für das Feststellungsverfahren sind je nach Bundesland Versorgungsämter oder kommunale Sozialämter bzw. Landesämter (oft im Geschäftsbereich der Integrationsämter oder Sozialministerien angesiedelt). Diese Behörde holt nach Antragseingang die erforderlichen Unterlagen ein und entscheidet durch Bescheid. Eine besondere „Beteiligung“ anderer Stellen im Antragsverfahren ist nicht vorgesehen – der Arbeitgeber etwa wird nicht automatisch informiert. Das Verfahren unterliegt der amtlichen Ermittlungspflicht38; der Antragsteller muss zwar mitwirken (ärztliche Schweigepflichtentbindungen unterschreiben, ggf. sich untersuchen lassen), aber die Behörde ist zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet.39 Bei Heilungsbewährung wird sie vor allem prüfen, ob die Diagnose zu den in der VersMedV genannten Krankheitsbildern gehört und ob der relevante Zeitraum korrekt bestimmt ist (z.B. Start der Heilungsbewährung ab Zeitpunkt der Tumorentfernung). Ausstellung des Ausweises: Wird ein GdB von mindestens 50 festgestellt, stellt die Behörde einen Schwerbehindertenausweis aus. Interessant ist, dass Ausweise in Heilungsbewährungsfällen häufig befristet ausgestellt werden – etwa bis zum Ende der 5-Jahresfrist. Das ist jedoch verwaltungspraktisch unterschiedlich gehandhabt. Ein befristeter Ausweis hat den Vorteil, dass der Betroffene rechtzeitig vor Ablauf an die Nachprüfung denkt; ein unbefristeter Ausweis mit Vermerk „Überprüfung am [Datum] vorgesehen“ ist hingegen für den Betroffenen zunächst beruhigend, birgt aber die Gefahr, dass er das Fristende nicht auf dem Schirm hat. Hinweispflichten: Nach aktueller Rechtslage ist die Behörde nicht gesetzlich verpflichtet, den Betroffenen an die Überprüfung zu erinnern (auch wenn sie es oft tut). Allerdings gab es Überlegungen, hier eine Erinnerungspflicht sechs Monate vor Fristende einzuführen – dazu unten III.2.

4. Ablauf des Nachprüfverfahrens und praktische Strategien

Der Ablauf des Nachprüfverfahrens nach Ablauf der Heilungsbewährung folgt im Wesentlichen den Regeln des § 48 SGB X. In der Praxis bedeutet dies: Von Amts wegen wird etwa 4–5 Jahre nach der Erstfeststellung eine Neubewertung eingeleitet. Zunächst erhält der schwerbehinderte Mensch einen schriftlichen Hinweis der Behörde, dass beabsichtigt ist, den GdB herabzusetzen bzw. den Schwerbehindertenstatus zu entziehen. Diese Mitteilung ist eine sogenannte Anhörung nach § 24 SGB X. Der Betroffene hat nun Gelegenheit, sich innerhalb einer bestimmten Frist (oft 4 Wochen) zu äußern und Argumente oder neue medizinische Unterlagen vorzulegen, die für eine Beibehaltung des bisherigen GdB sprechen. Wichtig: Jetzt gelten die normalen Bewertungsmaßstäbe. Es kommt also darauf an, welche konkreten Beeinträchtigungen aktuell vorliegen und welchen GdB diese nach der VersMedV rechtfertigen.40 Praktische Strategie: Betroffene sollten spätestens ein Jahr vor Ablauf der Heilungsbewährung beginnen, alle relevanten Gesundheitsaspekte zusammenzutragen. Empfehlenswert ist es, sich vom Hausarzt oder Facharzt einen aktuellen Befundbericht ausstellen zu lassen, der den Gesundheitszustand nach der überstandenen Krankheit beschreibt. Falls durch die ursprüngliche Erkrankung bleibende Schäden geblieben sind (z.B. Organverlust, Narben, Funktionsstörungen) oder neue Gesundheitsprobleme hinzugetreten sind, sollten diese aufgeführt werden. Ein häufiges Szenario: Nach einer Krebserkrankung verbleibt beispielsweise eine chronische Müdigkeit (Fatigue) oder eine Organfunktionseinschränkung, die einen gewissen GdB bedingt – oder es liegen ganz andere Behinderungen vor (etwa orthopädische Probleme), die bisher nicht bewertet wurden. All das sollte in der Anhörung vorgebracht werden, um einer pauschalen Herabsetzung entgegenzuwirken. Die Behörde muss nämlich bei der Neufeststellung alle Behinderungen berücksichtigen, nicht nur die ursprüngliche Krankheit41. Aus pragmatischer Sicht empfiehlt es sich, die Hilfe von Beratungsstellen (z.B. VdK, SoVD oder Behindertenverbände) in Anspruch zu nehmen. Auch die Schwerbehindertenvertretung im Betrieb (falls vorhanden) oder Selbsthilfegruppen können unterstützen. Diese Stellen, ebenso wie Fachanwälte für Sozialrecht, kennen das Procedere und wissen, welche Unterlagen erfahrungsgemäß überzeugen. Nachdem der Betroffene seine Stellungnahme abgegeben hat, prüft die Behörde erneut und erlässt den Änderungsbescheid: entweder eine Herabsetzung auf den neuen GdB (z.B. von 80 auf 30) oder im Idealfall die Weitergeltung des GdB 50, falls doch noch ausreichende Funktionsbeeinträchtigungen nachgewiesen wurden. Gegen diesen Bescheid stehen dem Betroffenen die normalen Rechtsbehelfe offen (Widerspruch binnen eines Monats, ggf. Klage zum Sozialgericht)42. Hier ist zu beachten, dass ein Widerspruch aufschiebende Wirkung hat und zwar auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten, § 86a SGG – das heißt, die Aberkennung des Schwerbehindertenstatus wird erst dann wirksam, wenn eine negative Entscheidung ergangen ist, die rechtskräftig geworden ist. In der Praxis bedeutet dies z.B., dass der besondere Kündigungsschutz auch erst ab einer letztinstanzlichen für den Versicherten negativen Entscheidung entfällt. Mit der Erhebung eines Widerspruchs und Klage kann die Aberkennung der Schwerbehinderung zeitlich weit nach hinten verschoben werden43.44 Sollte sich dann schlussendlich abzeichnen, dass der GdB tatsächlich deutlich sinkt (unter 50), können Betroffene parallel schon einen Gleichstellungsantrag bei der Agentur für Arbeit stellen, um im Arbeitsverhältnis weiter geschützt zu sein.

Praktisches Beispiel einer Strategie: Ein Arbeitnehmer mit GdB 80 wegen Darmkrebs (Heilungsbewährung 5 Jahre) weiß, dass im kommenden Jahr die Überprüfung ansteht. Bereits ein halbes Jahr vorher sammelt er Berichte seines Onkologen und Hausarztes. Diese zeigen, dass er zwar krebsfrei ist, aber z.B. unter Darmträgheit und chronischer Erschöpfung leidet. Außerdem hat er mittlerweile Rückenbeschwerden (GdB-bewertungsfähig). Er reicht diese Berichte innerhalb der Frist ein und argumentiert, dass weiterhin ein Gesamt-GdB von 50 vorliege. Die Behörde bewertet daraufhin: Darmkrebs folgenlos ausgeheilt = 0 GdB, aber Darmträgheit = z.B. GdB 20, Wirbelsäulenschaden = GdB 30, chronische Fatigue = GdB 20; in der Gesamtschau könnte hier ein Gesamt-GdB von 50 resultieren, sodass der Schwerbehindertenstatus bestehen bleibt. Hätte der Betroffene keine Unterlagen eingereicht, wäre ggf. einfach auf GdB 0 (kein Krebsleiden mehr) bzw. 20 (für geringe Restbeschwerden) herabgestuft – der Status wäre verloren. Man sieht daran, wie wichtig aktive Mitwirkung ist.

Exkurs Zeitrente: Gerade bei Krebserkrankungen kann es sinnvoll sein, für die Dauer einer längerfristigen Behandlung eine befristete Erwerbsminderungsrente nach § 102 Abs. 2 SGB VI in Betracht zu ziehen. Die Rentengewährung ist dabei auf maximal drei Jahre begrenzt, kann jedoch auch für ein oder zwei Jahre festgesetzt werden, um dem Versicherten ausreichend Zeit für seine Therapie zu verschaffen. Der beratende Rechtsanwalt muss jedoch mit besonderer Sorgfalt darauf achten, dass eine solche zeitlich begrenzte Rentenbewilligung nicht unbeabsichtigte negative Folgen für das Arbeitsverhältnis des Betroffenen hat. Es ist daher essenziell zu prüfen, ob die Bewilligung einer zeitlich befristeten Erwerbsminderungsrente möglicherweise zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses führt. In diesem Zusammenhang kann ein Blick in den Arbeitsvertrag aber auch in den geltenden Tarifvertrag – sofern ein solcher Anwendung findet – aufschlussreich sein, da diese Regelungen enthalten können, die eine automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Falle der Berentung vorsehen.

5. Typische Fallkonstellationen und Beispiele

In der Praxis tritt die Heilungsbewährung vor allem in bestimmten Krankheitskonstellationen auf. Krebserkrankungen: Klassisches Beispiel ist eine bösartige Tumorerkrankung. Hier beträgt die Heilungsbewährungszeit fast immer fünf Jahre. Eine Ausnahme bildet lediglich ein Carcinoma in situ, das nach neuer Klarstellung grundsätzlich keine Heilungsbewährung begründet.45 Unabhängig von der konkreten Auswirkung des Tumors wird ein Schwerbehindertenstatus zuerkannt. Beispielsweise bekommt eine Brustkrebspatientin nach brusterhaltender Operation und Chemotherapie einen GdB von 50 für 5 Jahre.46 Selbst wenn sie keine akuten Beschwerden mehr hat, rechtfertigt die Krebsdiagnose diesen GdB. Nach Ablauf der fünf Jahre – sofern kein Rückfall eintritt – wird neu bewertet. Ist die Patientin dann gesund und die Brust erhalten, würde der GdB auf 0 fallen; hat sie z.B. durch die Behandlung eine Einsteifung der Schulter erlitten oder andere Folgen, könnten noch z.B. GdB 20 verbleiben. Wurde die Brust abgenommen (Mastektomie) und nicht wieder aufgebaut, sieht die VersMedV dauerhaft einen Einzel-GdB von 30 vor47 – dieser Wert käme dann nach der Heilungsbewährung zum Tragen. Ein weiteres Beispiel: Ein Nierenkrebspatient, dem eine Niere entfernt wurde, erhält wegen des Krebses einen GdB 80 befristet48. Ohne Berücksichtigung der Krebsgefahr würde der Organverlust nur GdB 3049 bedeuten. Bleibt er fünf Jahre krebsfrei, wird der GdB voraussichtlich auf 30 herabgesetzt (Verlust einer Niere). Organtransplantationen:50 Bei Herz- oder Lebertransplantationen beträgt die Heilungsbewährung laut VersMedV zwei Jahre51, bei Knochenmark- oder Stammzelltransplantation drei Jahre. Während dieser Zeit wird meist ein sehr hoher GdB (70 bis 100) anerkannt, da die ersten Jahre nach Transplantation besonders kritisch sind (Abstoßungsgefahr, schwere Immunsuppression). So wird ein Herztransplantierter in den ersten zwei Jahren oft mit GdB 100 eingestuft. Nach Ablauf der zwei Jahre erfolgt eine Neubewertung: Hat das Herz stabil funktioniert und es treten „nur“ die üblichen dauerhaften Folgen (Medikation, Infektanfälligkeit etc.) auf, sinkt der GdB ggf. auf z.B. 50 oder 60 – was aber immer noch eine Schwerbehinderung bedeutet. Psychische Erkrankungen:52 Auch bei bestimmten schweren psychischen Störungen kennt die VersMedV Heilungsbewährungen. Zum Beispiel kann nach einer erstmaligen schizophrenen Psychose oder schweren bipolaren affektiven Störung für einen Zeitraum (oft einige Jahre) ein GdB von 50 gewährt werden, um abzuwarten, ob sich die Krankheit chronifiziert. Bleibt die Person in vollständiger Remission, könnte der GdB danach wieder entzogen werden. Kehren Schübe zurück, wäre ggf. eine erneute (oder verlängerte) Heilungsbewährung oder dann ein dauerhafter GdB gerechtfertigt. Suchtkrankheiten: Bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, die erfolgreich behandelt wurde (Entzugstherapie), gewähren einige Versorgungsämter ebenfalls befristet GdB 50 für, sagen wir, 2 Jahre Heilungsbewährung. In dieser Zeit soll der Betroffene stabil abstinent bleiben; gelingt dies, wird der GdB nachher meist auf 0 reduziert (da Abstinenz ohne bleibende Schäden keine Behinderung mehr darstellt)53. Bei Rückfall hingegen würde möglicherweise erneut eine Schwerbehinderung festgestellt – oder andere Maßnahmen der Suchthilfe greifen. Frühere Chronische Krankheiten mit unklarer Prognose: In seltenen Fällen wurde auch bei Krankheiten wie Multipler Sklerose am Anfang eine Art „Heilungsbewährung“ diskutiert, wenn der Verlauf unklar ist. Allerdings sieht die VersMedV hierfür keine ausdrückliche Bewährungszeit vor, da MS als chronisch gilt. Hier ist die Heilungsbewährung nicht vorgesehen, stattdessen richtet man sich nach dem aktuellen Status und passt bei Fortschreiten an.54 Zusammengefasst zeigen die Beispiele, dass die Heilungsbewährung vor allem bei akut bedrohlichen Krankheiten mit potentieller, aber unsicherer Heilung angewandt wird. Sie bietet den Betroffenen einen pauschalen Schwerbehindertenschutz auf Zeit. Die abschließende Neubewertung kann dann – je nach Verlauf – sehr unterschiedliche Ergebnisse haben: Manche verlieren den Status ganz, andere behalten immerhin einen geringeren GdB (und können ggf. gleichgestellt werden), wieder andere haben leider Rückfälle erlitten und bleiben daher schwerbehindert (mit ggf. erneuter Heilungsbewährung bei neuer Therapie). Wichtig ist, dass Betroffene sich der temporären Natur bewusst sind und die Übergangsstrategien kennen (siehe II.4.).

 

III. Rechtsprechung und aktuelle Entwicklungen

1. Wichtige Rechtsprechung und Auswirkungen

Die zentrale Rechtsprechung des BSG zur Heilungsbewährung wurde bereits in der dogmatischen Analyse (I.5) skizziert. Hier sollen noch einige aktuelle Aspekte und Urteile ergänzt werden: Keine Verlängerung der Heilungsbewährung im Einzelfall: Die Gerichte haben klargestellt, dass die im VersMedV genannten Zeiträume bindend sind und nicht individuell verlängert werden können. So entschied das Bayerische Landessozialgericht 201655, dass auch eine ungünstige Prognose (etwa besonders aggressiver Krebs) nicht zu einer Verlängerung der 5-Jahres-Frist führt – „in der Regel 5 Jahre“ bedeute nur, dass es für bestimmte Krebsarten verkürzte Fristen gebe, aber keine Verlängerung im Einzelfall. Demnach endet die Heilungsbewährung grundsätzlich nach der vorgesehenen Zeit, und anschließend muss gegebenenfalls über andere Mittel (etwa einen unbefristeten GdB wegen dann doch fortbestehender Beeinträchtigungen) entschieden werden. Beginn der Heilungsbewährung: Ein Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen von 202056 betonte, dass die Heilungsbewährungszeit erst mit der erfolgreichen Erstbehandlung beginnt – nicht bereits mit der Diagnosestellung. Im zugrunde liegenden Fall hatte der Kläger argumentiert, die Schwerbehinderteneigenschaft müsse rückwirkend ab Diagnosezeitpunkt gelten. Das LSG lehnte ab: Vor dem Zeitpunkt, an dem der Betroffene überhaupt von der lebensbedrohlichen Krankheit wusste und bevor Behandlungen starteten, könne kein GdB wegen Heilungsbewährung zuerkannt werden. Das Prinzip der Teilhabebeeinträchtigung verlange, dass zumindest psychische oder physische Auswirkungen spürbar geworden sind – was vor Diagnosestellung nicht der Fall ist. Diese gerichtliche Auslegung wird nun auch in der VersMedV nachvollzogen: Der aktuelle Verordnungsentwurf stellt klar, dass die Heilungsbewährung grundsätzlich erst mit Abschluss der Ersttherapie (z.B. Zeitpunkt der Operation bzw. Transplantation) beginnt.57 Kein Anspruch auf Beibehalt aus Angst vor Rückfall: Mehrfach entschieden58 wurde, dass die verständliche Angst vor einem Rezidiv, die bei vielen ehemals schwer Erkrankten ein Leben lang vorhanden bleibt, allein keinen Schwerbehindertenstatus auf Dauer rechtfertigt. Die Gerichte argumentieren, dass mit abnehmender Rückfallwahrscheinlichkeit auch die seelische Belastung regelmäßig abnimmt. Wenn jedoch aus der Angst eine behandlungsbedürftige Angststörung oder Depression wird, wäre diese wiederum als eigenständige Behinderung im Rahmen der Nachprüfung zu berücksichtigen.59 Verlust des Schwerbehindertenschutzes nach Herabstufung: Praktisch relevant sind Fälle, in denen Betroffene nach Ablauf der Heilungsbewährung ihren Arbeitsplatz verloren und dagegen klagten. Hier stellt sich die Rechtslage so dar: Fällt der GdB unter 50 und wird kein Gleichstellungsantrag gestellt oder bewilligt, entfällt der besondere Kündigungsschutz des § 168 SGB IX. Wird in einem solchen Fall vom Arbeitgeber dennoch gekündigt, ohne dass das Integrationsamt involviert war, ist die Kündigung rechtswidrig, sofern der Schwerbehindertenstatus im Kündigungszeitpunkt noch Bestand hatte. Die Gerichte haben aber klargestellt, dass nach rechtmäßiger Aberkennung des Status (also Herabstufung des GdB) kein fortwirkender Schutz mehr besteht.60 Betroffene müssen daher rechtzeitig vorsorgen, indem sie im Zweifelsfall die Gleichstellung beantragen, um lückenlos geschützt zu sein.

2. Aktuelle Entwicklungen und Reformdiskussionen

In den letzten Jahren hat es im Kontext der Versorgungsmedizin-Verordnung Bestrebungen gegeben, die Handhabung der Heilungsbewährung zu reformieren. Konkret ging es um die Frage, ob GdB-Bescheide in Heilungsbewährungsfällen befristet erlassen werden sollten, statt unbefristet mit späterer Überprüfung. Ein Entwurf zur Änderung der VersMedV61 sah vor, Heilungsbewährungen als von vorneherein befristete GdB-Feststellungen auszugestalten. Dies sollte mehr Transparenz schaffen, führte jedoch zu heftiger Kritik von Behindertenverbänden. Der Deutsche Behindertenrat62 etwa monierte, Befristungen verschieben das Verfahrensrisiko einseitig auf die Betroffenen. Wenn ein Ausweis einfach ausläuft, müsse der Betroffene unbedingt rechtzeitig einen Folgeantrag stellen, um keinen Rechtsverlust zu erleiden – versäumt er dies, gingen Schutzrechte (z.B. Kündigungsschutz) verloren, obwohl sich sachlich nichts geändert hat. Zudem entstünde Rechtsunsicherheit in der Übergangszeit. Die Verbände wiesen auch darauf hin, dass die Behörden durch Befristungen nicht entlastet, sondern eher belastet würden: Sie müssten dann zusätzlich Verwaltungsakte zum Fristablauf erlassen und es wären vermehrt Eilanträge zu erwarten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat diese Bedenken aufgegriffen63 und erklärt, man werde an Befristungen nur festhalten, wenn eine verbindliche Hinweispflicht der Behörde 6 Monate vor Fristende eingeführt werde. Andernfalls solle auf die Befristungsregelung verzichtet werden. Der Ausgang dieser Diskussion war zuletzt (Stand Ende 2024) noch offen; viele Anzeichen sprechen dafür, dass die bisherige Praxis (unbefristete Feststellung mit Überprüfung nach § 48 SGB X) beibehalten wird – was der Referentenentwurf vom Dezember 2024 nun ausdrücklich vorsieht. Die Heilungsbewährung an sich steht dabei außer Frage – auch das BMAS betonte, dass man am „Konstrukt der Heilungsbewährung“ festhalten wolle. Lediglich die Verfahrensgestaltung war Streitpunkt. Darüber hinaus gibt es Überlegungen, ob man bei bestimmten Erkrankungen die Heilungsbewährungszeiten an den medizinischen Fortschritt anpassen sollte. So werden einige Krebsarten heute deutlich besser behandelt als früher; die Pauschalfrist von 5 Jahren stammt aus Zeiten, in denen man nach 5 Jahren von einer Heilung ausging. Medizinisch wird bei manchen Tumoren teils schon nach 3 rückfallfreien Jahren von Heilung gesprochen. Dennoch hat man in der VersMedV bisher an den 5 Jahren festgehalten, wohl aus Vereinfachungsgründen und um auf der sicheren Seite zu sein. In Fachkreisen wird dies beobachtet, aber konkrete Änderungen sind aktuell nicht erfolgt. Zusammenfassung der Entwicklung: Die Heilungsbewährung ist ein gewachsenes Rechtsinstitut, das durch höchstrichterliche Rechtsprechung und Normierung in der VersMedV gefestigt ist. Aktuelle Entwicklungen drehen sich v.a. um die technische Umsetzung (befristete Bescheide ja/nein) und die Feinjustierung der Fristen. Die Tendenz geht dahin, die Rechte der Betroffenen zu wahren und keine zusätzlichen Hürden aufzubauen. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen: Der Gesetzgeber verzichtet im aktuellen Entwurf auf die ursprünglich erwogene Befristung der GdB-Bescheide und wahrt so die Rechte der Betroffenen. Die Diskussion zeigt aber, dass eine hohe Sensibilität besteht, diesen Personenkreis angemessen zu schützen und gleichzeitig Verwaltungsabläufe effizient zu gestalten. Zukünftige Anpassungen werden daher weiterhin sorgfältig abzuwägen sein.

Fazit: Die Heilungsbewährung im Schwerbehindertenrecht ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Recht und Medizin verzahnt werden können, um Menschen in Krisenzeiten zu unterstützen. Dogmatisch stellt sie eine Ausnahme vom Prinzip der dauerhaften Behinderung dar, die jedoch gut begründet und normativ abgesichert ist. Praktisch bietet sie Betroffenen erheblichen Schutz und Chancen zur Rehabilitation, verlangt ihnen aber auch Wachsamkeit beim Auslaufen der Frist ab. Die Rechtsprechung hat klargelegt, dass die Heilungsbewährung kein „Trick“ ist, um dauerhaft Vorteile zu erlangen, sondern eine zeitlich begrenzte Hilfe. Aktuelle Reformüberlegungen konzentrieren sich darauf, dieses System noch handhabbarer zu machen, ohne die Betroffenenrechte zu schmälern. Für Juristen und Praktiker im Sozialwesen gilt es, die Möglichkeiten der Heilungsbewährung proaktiv zu nutzen – sei es durch frühzeitige Antragstellung oder durch Unterstützung beim Nachprüfungsverfahren – damit schwer erkrankte Menschen bestmöglich in Arbeit und Gesellschaft verbleiben können.

 

1 BSG, Urt. v. 22.5.1962 – 9 RV 590/59.

2 LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 25.1.2021 – L 5 SB 28/20.

3 BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94.

4 VersMedV, Stand 1.1.2024; Allgemeine Hinweise zur GdS-Tabelle, B 1 1. c. und d.; BMAS, RefE 6. ÄndV VersMedV, Bearb. Stand 18.12.2024, Teil A Nr. 2.

5 BMAS, RefE Sechste Verordnung zur Änderung der VersMedV, Bearbeitungsstand 18.12.2024, Teil A Nr. 2.1–2.6 (noch nicht in Kraft).

Carcinoma in situ bezeichnet einen malignen Tumor, der auf das Ursprungsgewebe begrenzt ist. Er hat noch nicht die Fähigkeit zur Streuung von Metastasen. Die Basalmembran ist intakt, der Tumor wächst noch nicht invasiv.

7 BSG, Urt. v. 27.10.2022 – B 9 SB 1/20 R; BSG, Urt. v. 11.8.2015 – B 9 SB 2/15 R; BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94, LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.8.2002 – L 7 SB 70/02.

8 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 13.5.2020 – L 13 SB 73/19.

9 RefE 2024, Teil A Nr. 1.4 (Abweichung in atypischen Einzelfällen).

10 Neben der voraussichtlichen Beeinträchtigung für mehr als sechs Monate (vgl. § 152 Abs. 1 SGB IX) muss eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Überschreiten der Frist hinzukommen. Entscheidend ist allein, dass die Sechsmonatsfrist voraussichtlich überschritten wird; die bisherige Dauer der Beeinträchtigung spielt hingegen keine Rolle; siehe auch BSG, Urt. v. 12.4.2000 - B 9 SB 3/99 R – br 2000, 184; BSG, Urt. v. 29.4.2010 - B 9 SB 2/09 R – br 2010, 219 (zur Erheblichkeit der Prognosedauer).

11 BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94.

12 Die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412 in der jeweils geltenden Fassung) enthält eine umfangreiche Anlage; siehe auch den Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15.12.2008. Zum Stichtag 1.1.2009 ersetzte sie die bisher geltenden ‚Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht‘. Die entsprechende Ermächtigungsgrundlage findet sich nun in § 153 Abs. 2 SGB IX nF.

13 MAH SozR/Tolmein, 6. Aufl. 2024, § 29 Rn. 40.

14 BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 25.5.2005 – L 6 SB 55/04; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 20.10.1999 – L 4 SB 23/97.

15 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 22.1.2021 – L 8 SB 3619/19.

16 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 1.12.2022 – L 7 SB 55/17.

17 Das Institut der Heilungsbewährung geht auf die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 22.5.1962 – 9 RV 590, 59 zu wesentlichen Änderungen im Sinne des § 62 BVG bei Lungentuberkulosen zurück. Damals hatte das BSG entschieden, dass für den Fall, dass die Inaktivität einer Lungentuberkulose längere Zeit – etwa 5 Jahre – ohne Rückfälle andauere, die damit eintretende klinische Heilung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse darstellen, die eine Rentenentziehung oder Herabsetzung rechtfertigen könne: „Die wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG gegenüber dem Stadium des Übergangs von Aktivität zur Inaktivität liegt hier in dem jahrelangen Inaktivbleiben einer vorher aktiven und ihrer Natur nach zu Rückfällen neigenden Krankheit.

18 BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94.

19 BSG, a.a.O.

20 BSG, Urt. v. 6.12.1989 – 9 RVs 3/89 – br 1991, 47.

21 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.6.2020 – L 13 SB 120/18 und Urt. v. 13.5.2020 – L 13 SB 73/19.

22 Informationen und häufige Fragen zum Entwurf der 6. Verordnung der VersMedV – Einschätzungen des Deutschen Behindertenrates vom 30.4.2019, S. 8 f.; https://www.deutscher-behindertenrat.de/mime/00113599D1556797545.pdf.

23 § 168 SGB IX findet bei der arbeitgeberseitig ausgesprochenen Kündigung direkt und bei der arbeitgeberseitig ausgesprochenen Kündigung über die Verweisungsvorschrift des § 174 Abs. 1 SGB IX Anwendung.

24 In einigen Bundesländern (z.B. Nordrhein-Westfalen, Bayern, Saarland, Berlin) wurden zwischenzeitlich die Integrationsämter in „Inklusionsämter“ umbenannt, ohne dass dadurch eine inhaltliche Änderung eingetreten ist.

25 Der Arbeitgeber hat die Zustimmung bei dem örtlich zuständigen Integrationsamt schriftlich oder elektronisch zu beantragen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

26 § 208 SGB IX.

27b§ 33b Abs. 2 Nr. 1 EStG.

28 Altersrente für schwerbehinderte Menschen §§ 37, 236a SGB VI.

29 § 228 Abs. 1 SGB IX.

30 § 3a Abs. 1 KraftStG.

31 Auch Nachteilsausgleiche im Prüfungswesen sind praktisch von großer Bedeutung; zur Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, BSG, Urt. v. 12.2.1997 – 9 RVs 1/95 - br 1997, 175; s. zur Schreibzeitverlängerung auch VGH Kassel, Beschl. v. 3.1.2006 - 8 TG 3292/05. Anderweitige Nachteilsausgleiche: Familienversicherung für Kinder mit Behinderung, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, sowie Gewährung von Kindergeld/-freibetrag.

32 Verfahrensrechtliche Voraussetzung einer Gleichstellung ist nach § 151 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ein Antrag. Einer besonderen Form bedarf es nicht. Der Antrag ist grundsätzlich bei der örtlich zuständigen Bundesagentur für Arbeit zu stellen.

33 Nach § 151 Abs. 4 SGB IX sind auch behinderte Jugendliche und junge Erwachsene (§ 2 Abs. 1 SGB IX) während der Zeit einer Berufsausbildung in Betrieben oder Dienststellen oder eine berufliche Orientierung schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, auch wenn der Grad der Behinderung weniger als 30 beträgt oder ein GdB nicht festgestellt ist. Der Nachweis der Behinderung wird durch eine Stellungnahme der Agentur für Arbeit oder durch einen Bescheid über Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht. Die Gleichstellung gilt nur für Leistungen des Integrationsamtes im Rahmen der beruflichen Orientierung und der Berufsausbildung im Sinne des § 185 Absatz 3 Nummer 2 Buchstabe c. Das bedeutet, dass für diesen Personenkreis aus der Gleichstellung keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen ergeben und die Betroffenen sich nicht auf den besonderen Kündigungsschutz nach den §§ 168 ff. SGB IX berufen können.

34 § 154 Abs. 1 SGB IX.

35 Zur Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen können Integrationsämter Zuschüsse zur behindertengerechten Arbeitsplatzgestaltung gewähren, sofern ein GdB von mindestens 50 vorliegt. Förderfähig sind u.a. technische Hilfsmittel oder speziell ausgestattete Fahrzeuge, wobei eine vollständige Kostenerstattung möglich ist.

Zusätzlich bietet die Bundesagentur für Arbeit finanzielle Unterstützung, etwa durch die vollständige Erstattung des Arbeitsentgelts bei einer bis zu dreimonatigen Probebeschäftigung. Zudem kann nach § 90 SGB III ein Eingliederungszuschuss von bis zu 70 % des Gehalts für maximal 24 Monate gewährt werden.

Da es sich um Ermessensleistungen handelt, entscheidet die örtliche Agentur für Arbeit über Bewilligung, Höhe und Dauer der Förderung.

36 Antragsberechtigt ist auch ein Minderjähriger, der das 15. Lebensjahr vollendet hat und nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I handlungsfähig ist. Eine Antragsberechtigung von im Ausland lebenden Deutschen ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn dem behinderten Menschen aus der Feststellung des GdB in Deutschland konkrete Vergünstigungen erwachsen können, die keinen Inlandswohnsitz voraussetzen (BSG, Urt. v. 29.4.2010 - B 9 SB 1/10 R – juris, Rn. 18). Ein langjähriger tatsächlicher Aufenthalt in Deutschland kann genügen (BSG, a.a.O., Rn. 19).

37 Für eine GdB-Feststellung für den Zeitraum vor Antragstellung, die gesondert zu beantragen ist, muss der Betroffene ein besonderes Interesse glaubhaft machen (§ 152 Abs. 1 Satz 2). Ein solches liegt vor, wenn dem behinderten Menschen durch die rückwirkende Feststellung seines GdB konkrete Vorteile erwachsen können, was bspw. bei einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen, aber auch durch die Inanspruchnahme von Steuervorteilen der Fall sein kann (BSG, Urt. v. 16.2.2012 - B 9 SB 1/11 R - juris, Rn. 38). Dabei muss der Betroffene die Vorteile in angemessenem Umfang darlegen und Belege beibringen, um das besondere Interesse glaubhaft zu machen (BSG, a.a.O., Rn. 49).

38 § 20 SGB X.

39 Der Prüfauftrag des MDK nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ist eine besondere Form der den Behörden nach Abs. 1 Satz 1 verpflichtend aufgegebenen Sachverhaltsaufklärung im Verwaltungsverfahren (BSG, Urt. v. 16.5.2012 - B 3 KR 14/11 R).

40 BSG, Urt. v. 13.8.1997 – 9 RVs 10/96.

41 BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94.

42 § 84 SGG; Widerspruch und Klage sind innerhalb eines Monats zu erheben. Zur Fristwahrung genügt ein einfacher Widerspruch oder eine Klageeinreichung ohne Begründung. Es empfiehlt sich, zunächst Akteneinsicht zu beantragen und nach deren Auswertung die Anträge sowie eine inhaltlich fundierte Begründung nachzureichen.

43 Unter Umständen kann man damit auch eine vorgezogene Rente für schwerbehinderte Menschen erreichen, da Voraussetzung dort u.a. lediglich ist, dass der Betroffene bei Beginn der Rente als schwerbehinderter Mensch anerkannt ist, § 37 Satz 1 Nr. 2 SGB VI.

44Allerdings ist zu beachten, dass § 86a SGG dahingehend einschränkend auszulegen ist, dass die aufschiebende Wirkung dann nicht eintritt, wenn es zu einer Überprüfung des Verwaltungsaktes nicht (mehr) kommen kann, weil der Widerspruch offensichtlich unzulässig ist, z.B. wenn der Widerspruch verfristet ist und keine Gründe für eine Wiedereinsetzung vorliegen.

45 RefE 2024, Teil A Nr. 2.6.

46 VersMedV B 14.1: GdS in der Zeit nach Entfernung eines Malignen Brustdrüsentumors in den ersten fünf Jahren bei Entfernung im Stadium (T1 bis T2) pN0 M0: 50; bei Entfernung im Stadium (T1 bis T2) pN1 M0: 60; in höheren Stadien: wenigstens 80.

47 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 10.7.2013 – L 7 SB 17/11.

48 VersMedV B 12.1.4.

49 VersMedV B 12.1.1.

50 SG Magdeburg, Urt. v. 26.2.2021 – S 3 SB 119/17.

51 VersMedV B 9.1.4; SG Detmold, Urt. v. 25.3.2014 - S 2 SB 565/12.

52 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 21.3.2024 – L 6 SB 2671/23.

53 LSG Saarland, Urt. v. 27.6.2006 - L 5 SB 118/03.

54 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26.3.2015 - L 13 SB 6/13.

55 LSG Bayern (Senat), Beschl. v. 28.4.2016 - L 3 SB 20/16.

56 LSG Niedersachsen-Bremen (13. Senat), Urt. v. 10.6.2020 – L 13 SB 120/18, so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 19.4.2007 – L 11 SB 22/06.

57 RefE 2024, Teil A Nr. 2.5.

58 BSG, Urt. v. 9.8.1995 – 9 RVs 14/94; LSG Sachsen-Anhalt (7. Senat), Urt. v. 1.12.2022 – L 7 SB 55/17.

59 Wie oben erwähnt, wäre ein solches zusätzliche Leiden als Komorbidität separat zu bewerten.

60 Vgl. etwa VGH Kassel, Beschl. v. 3.1.2006 – 8 TG 3292/05.

61 RefE zur 6. Verordnung zur Änderung der VersMedV vom Herbst 2018; veröffentlicht auf der Webseite des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

62 Stellungnahme vom 25.11.2018.

63 Stellungnahme des BMAS vom 14.2.2019.

Quelle:
Behinderung und Recht. Fachzeitschrift für Inklusion,Teilhabe und Rehabilitation, Heft 4/2025 S. 86-94