von Larissa Wocken, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht, und Malte Fritsch, Rechtanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, beide Hamburg
Ablauf des Bewerbungsverfahrens
1. Bewerbung schwerbehinderter Menschen und Umgang mit Vermittlungsvorschlägen
Teilt ein Bewerber im Bewerbungsschreiben seine Schwerbehinderung oder Gleichstellung mit, ist der Arbeitgeber verpflichtet, das Bewerbungsschreiben bei seinem Eingang vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Damit der Arbeitgeber seiner Pflicht zur ordnungsgemäßen Behandlung von Bewerbungen schwerbehinderter oder gleichgestellter Menschen nachkommen kann, muss der schwerbehinderte Mensch seine Behinderung und aus der Behinderung resultierende Leistungseinschränkungen mitteilen. Ihn trifft daher eine Offenbarungspflicht.[1]
Auch die Vorschläge der Arbeitsagentur oder der Integrationsfachdienste sind vom Arbeitgeber zu berücksichtigen. Dabei sind diese Vermittlungsvorschläge nicht höherrangig zu bewerten als eingehende Bewerbungen aufgrund des Ausschreibungsverfahrens.
Es besteht grundsätzlich keine Pflicht, den Schwerbehinderten zum Bewerbungsgespräch einzuladen (Ausnahme öffentliche Arbeitgeber, § 165 SGB IX). Es besteht aber die Pflicht, den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung – wenn es sie gibt – über eingehende Bewerbungen und Vermittlungsvorschläge der Arbeitsagentur oder des Integrationsfachdienstes zu unterrichten und die Unterlagen aller Bewerber vorzulegen, vgl. § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Eine Vorauswahl darf an dieser Stelle nicht getroffen werden.
Übersieht der Arbeitgeber den Hinweis auf die Schwerbehinderteneigenschaft und verstößt er deshalb gegen seine Pflichten, wird eine Benachteiligung wegen einer Behinderung vermutet. Dies kann Schadensersatzforderungen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nach sich ziehen, die nur schwer zu entkräften sind.
2. Einbeziehung der Interessenvertretungen
Es gibt unterschiedliche, alternative Verfahren, die der Gesetzgeber fordert, wenn die Bewerbung eines Schwerbehinderten bearbeitet und ggf. abgelehnt werden soll. Welches zutreffend ist, entscheidet sich danach,
• ob im Betrieb die Pflichtbeschäftigungsquote erfüllt ist oder nicht,
• ob neben dem Betriebsrat eine Schwerbehindertenvertretung gewählt
ist oder nicht,
• ob überhaupt ein Betriebsrat oder eine Schwerbehindertenvertretung
gewählt ist.
a) Im Betrieb sind Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung gewählt
aa) Ablauf eines diskriminierungsfreien Auswahlverfahrens
Das im Unternehmen durchzuführende Auswahlverfahren hat diskriminierungsfrei zu erfolgen. Hierbei ist vor allem die Zielsetzung der Gleichbehandlung schwerbehinderter oder gleichgestellter Menschen hervorzuheben. Aber auch aus ökonomischen Gründen ist Diskriminierungsfreiheit geboten. Die Folgen von Fehlern im Bewerbungsverfahren können finanzielle Folgen nach sich ziehen, da die Rechtsprechung zur Diskriminierung wegen Behinderung i. S. d. Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (zu Recht) einseitig streng zulasten des Arbeitgebers ausgestaltet ist.
Noch vor einem Ausschreibungsverfahren muss bereits mit den Interessenvertretungen geprüft werden, ob nicht bereits interne schwerbehinderte oder gleichgestellte Menschen auf dem vakanten Arbeitsplatz eingesetzt werden können, um so den Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung zu erfüllen.
Wenn eine interne direkte Besetzung nicht erfolgen konnte und ein Ausschreibungsverfahren erfolgt ist, sind weitere Schritte durch den Arbeitgeber einzuhalten.
Nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die betriebliche Interessenvertretung (also Betriebsrat, Personalrat, Mitarbeitervertretung) über die Vermittlungsvorschläge der Bundesagentur für Arbeit oder des Integrationsfachdienstes und die bei ihm eingegangenen Bewerbungen zu unterrichten.
Maßstab für die Weiterleitung ist, dass die Schwerbehindertenvertretung so umfassend in das Bewerbungsverfahren eingebunden ist, dass sie in der Lage ist, alle Pflichten, insbesondere aus § 178 SGB IX, wahrzunehmen. Die Schwerbehindertenvertretung soll als gleichwertiger Partner zum Arbeitgeber wahrgenommen werden.[2] Dabei ist es nicht ausreichend, der Schwerbehindertenvertretung den pauschalen Zugang zu allen Bewerbungsunterlagen zu gewähren. Es muss darüber hinaus unverzüglich ein Hinweis erfolgen, welche Bewerber schwerbehindert oder gleichgestellt sind.[3] Auch ist es nicht ausreichend, nur der betrieblichen Interessenvertretung einen Hinweis auf die Schwerbehinderung zu geben und darauf zu vertrauen, dass diese die Information weiterreicht. Die Schwerbehindertenvertretung ist eine eigenständige Interessenvertretung mit eigenen Ansprüchen.[4]
Keine Pflicht zur Weiterleitung besteht bei Initiativbewerbungen schwerbehinderter oder gleichgestellter Menschen, sofern keine freien Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.[5]
Aufgrund der rechtlich klaren Regelung gibt es auch keinen Handlungsspielraum, auf eine Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung zu verzichten. Die Schwerbehindertenvertretung kann nicht in Abstimmung mit dem Arbeitgeber auf die Weiterleitung verzichten, so etwa, um nur in die nähere Auswahl kommende Bewerber sichten zu müssen und so den Arbeitsaufwand zu minimieren. Nur der schwerbehinderte Bewerber selbst kann gem. § 164 Abs. 1 Satz 10 SGB IX darauf verzichten, dass die Schwerbehindertenvertretung am Bewerbungsverfahren beteiligt wird.[6]
Kommt es zu einem Bewerbungsgespräch, hat die Schwerbehindertenvertretung das Recht gem. § 178 Abs. 2 Satz 4 SGB IX, an diesem teilzunehmen. Wird die Schwerbehinderung oder Gleichstellung erst im Vorstellungsgespräch selbst mitgeteilt, sollte, sofern die Schwerbehindertenvertretung nicht bei diesem vertreten ist, ein neuer Gesprächstermin vereinbart werden. Hintergrund ist, dass anderenfalls die Rechte der Schwerbehindertenvertretung aus § 178 Abs. 2 Satz 4 SGB IX verletzt würden und der Bewerber seine Rechte aus § 164 Abs. 1 Satz 10 SGB IX nicht wirksam wahrnehmen konnte. Nur er kann entscheiden, ob die Schwerbehindertenvertretung am Bewerbungsprozess beteiligt wird, s. o. Es ist daher generell zu empfehlen, Vorstellungsgespräche erst nach Ablauf der Bewerbungsfrist durchzuführen, um der Schwerbehindertenvertretung die Möglichkeit zu geben, an den Vorstellungsgesprächen teilzunehmen (an allen!). Verstößt der Arbeitgeber hiergegen, sind alle Vorstellungsgespräche zu wiederholen.
Sind schon anhand der Bewerbung behinderungsbedingte Einschränkungen offensichtlich erkennbar, besteht bereits an dieser Stelle die Möglichkeit, auch den Integrationsfachdienst oder die Integrationsämter mit in das Verfahren einzubeziehen, um mögliche begleitende Hilfen im Arbeitsleben zur Gestaltung des Arbeitsverhältnisses nutzen zu können.
Auch die Rechte und Ansprüche des Betriebsrats müssen gewahrt werden. Der Betriebsrat hat gem. § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 BetrVG die Verpflichtung, die Einhaltung der im Betrieb geltenden Gesetze und Vorschriften zu beachten und insbesondere die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern.
Bei einem Verstoß gegen die Prüfpflicht aus § 164 Abs. 1 SGB IX kann daher der Betriebsrat seine Zustimmung zur Einstellung eines nicht schwerbehinderten Bewerbers verweigern.[7] Auch wenn der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt hat und einen nicht schwerbehinderten Arbeitnehmer einstellen will, steht dem Betriebsrat nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG ein Zustimmungsverweigerungsrecht zu.[8] Holt der Arbeitgeber die Prüfung nach, kann der Verstoß geheilt werden.[9]
Folge ist aber, dass durch eine Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates Einstellungsverfahren verzögert oder auch verhindert werden können. Insofern ist es dringend anzuraten, dass bei der Behandlung von Bewerbungen schwerbehinderter oder gleichgestellten Menschen immer die zuständigen Interessenvertretungen beteiligt werden.
bb) Ablehnung und Begründungserfordernisse
Erfolgt nach der Einladung zum Bewerbungsgespräch eine Einstellung des Bewerbers, bestehen keine Besonderheiten. Die Einstellung ist unter Beteiligung der jeweiligen Interessenvertretungen durchzuführen.
Komplexer wird das weitere Vorgehen jedoch, wenn der Arbeitgeber beabsichtigt, den schwerbehinderten Menschen nicht in die engere Auswahl mit einzubeziehen oder ihn direkt abzulehnen.
Hier kommt es zunächst darauf an, ob der Arbeitgeber seine Pflichtbeschäftigungsquote gem. § 154 SGB IX erfüllt.
Variante 1: Pflichtbeschäftigungsquote ist nicht erfüllt
Ist die Pflichtbeschäftigungsquote nicht oder nicht voll erfüllt, muss ein Arbeitgeber, der den schwerbehinderten Bewerber nicht zum Bewerbungsgespräch einladen will und nicht einstellen will, die Interessenvertretungen über die getroffene Entscheidung unterrichten.
Sind die Schwerbehindertenvertretung oder der Betriebsrat mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, ist die Ablehnung der Einladung und/oder die Ablehnung der Einstellung
• mit dem abgelehnten Bewerber (§ 164 Abs. 1 S. 8 SGB IX)
• dem Betriebsrat und
• der Schwerbehindertenvertretung
zu erörtern, § 164 Abs. 1 Satz 7 SGB IX.
Ziel der Erörterung ist, dass der Arbeitgeber seine Absicht unter Darlegung aller Gründe mit den Interessenvertretungen zu erklären hat. Die Interessenvertretungen können im Gegenzug hier ihre Sicht der Dinge schildern und darauf hinwirken, dass die Einstellung zu erfolgen hat oder auch der Argumentation des Arbeitgebers folgen, von einer Einstellung Abstand zu nehmen. Das Verfahren erfolgt dabei nicht nur intern, auch der betroffene schwerbehinderte Mensch ist anzuhören. Zur Anhörung selbst bestehen keine Formvorschriften. Der Regelfall sollte aber die mündliche Anhörung darstellen, um einen tatsächlichen Austausch zwischen dem darlegungsbelasteten Arbeitgeber und dem Bewerber ermöglichen zu können. Dies ist im schriftlichen Verfahren nur schwer möglich. Diese strenge Regelung verpflichtet zur Transparenz des Arbeitgebers. Es bleibt aber bei dem Grundsatz, dass eine Verpflichtung zur Einstellung mit diesem hohen Begründungsaufwand nicht verbunden ist.
Im Anschluss an diese Erörterung muss der Arbeitgeber gem. § 164 Abs. 1 Satz 9 SGB IX über seine Entscheidung unverzüglich unterrichten. Erfolgt dies nur verzögert, ist dies eine Ordnungswidrigkeit gem. § 238 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX. Die Form ist dabei unerheblich, eine Unterrichtung kann mündlich, in Textform oder auch schriftlich erfolgen. Es ist allerdings schon unter dem Gesichtspunkt der Dokumentation diskriminierungsfreier Bewerbungsverfahren anzuraten, nicht lediglich mündlich zu unterrichten.
Die Unterrichtung erfolgt gegenüber den Interessenvertretungen als auch gegenüber dem schwerbehinderten Menschen selbst. Dieser soll die Möglichkeit erhalten, die Entscheidungsgründe des Arbeitgebers im Zweifel auch gerichtlich nachprüfen zu lassen.[10]
Diese Anforderung zeigt, dass eine lapidare Ablehnung im Sinne von „andere Bewerber waren besser“ nicht ausreichend ist.[11] Es müssen alle Tatsachen, die zur Entscheidung geführt haben, offengelegt werden. Einen Katalog, welche Tatsachen dies sind, gibt es nicht. Allerdings ist insbesondere zielführend darzustellen, wieso der Bewerber hinsichtlich Fähigkeit, Leistung und Eignung schlechter für die ausgeschriebene Stelle geeignet war als der vom Arbeitgeber favorisierte Bewerber.[12]
Wird das Verfahren durch den Arbeitgeber eingehalten, ist eine diskriminierungsfreie Ablehnung erfolgt. Es zeigt sich jedoch, dass die Einhaltung der einzelnen Schritte sorgsam begleitet werden muss, um den Arbeitgeber nicht möglichen Diskriminierungsvorwürfen auszusetzen.
Variante 2: Pflichtbeschäftigungsquote ist erfüllt
Leichter ist die Variante, wenn die Pflichtbeschäftigungsquote erfüllt ist.
Ist dies der Fall, müssen die Schritte der Erörterung und anschließenden
Unterrichtung unter Beteiligung des schwerbehinderten Menschen nicht
durchgeführt werden.[13] Das Gesetz will auf diese Weise auch für Arbeitgeber Anreize bieten, die Beschäftigungsquote einzuhalten.
Die Bewerbungsunterlagen schwerbehinderter oder gleichgestellter Menschen sollten mindestens zwei Monate nach Zugang der Ablehnung aufbewahrt werden. Hintergrund ist, dass Ansprüche wegen möglicher Diskriminierung gem. § 15 Abs. 4 AGG innerhalb von zwei Monaten ab Zugang der Ablehnung geltend gemacht werden können. Nach Ablauf dieser Fristen verfallen diese Ansprüche. Da Ablehnungen generell nicht per Einschreiben versendet werden, ist die Frist zur Aufbewahrung sicherheitshalber um zwei Wochen zu verlängern, sodass sich eine Vernichtung nach 2,5 bis 3 Monaten empfiehlt.
cc) Einladungspflicht gem. § 165 SGB IX
Nur am Rande behandelt werden sollen hier die Pflichten als öffentlicher Arbeitgeber. Für diese ist in § 165 SGB IX eine Besonderheit in Bezug auf die Verknüpfung mit der Bundesagentur und der Einladungspflicht schwerbehinderter oder gleichgestellter Bewerber festgelegt.
Hintergrund ist, dass die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes hervorgehoben werden soll.[14]
Gem. § 165 Satz 1 SGB IX müssen frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende Stellen bei den Agenturen für Arbeit gemeldet werden. Dies stellt eine Verschärfung der bereits oben beschriebenen Regel aus § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dar.
Für die Praxis relevanter ist jedoch die Pflicht zur Einladung schwerbehinderter oder gleichgestellter Bewerber gem. § 165 Satz 3 SGB IX. Nach dem Wortlaut sind grundsätzlich alle schwerbehinderten oder gleichgestellte Menschen, die sich beworben haben oder von der Bundesagentur für Arbeit oder dem IFD vorgeschlagen wurden, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
Der Begriff Vorstellungsgespräch umfasst über den Wortlaut hinaus alle Teile des Auswahlprozesses. Beginnt das Einstellungsverfahren mit einem Assessment Center, ist die Norm entsprechend anzuwenden.[15]
Initiativbewerbungen können im Einzelfall eine Einladungspflicht auslösen, wenn eine freie und passende Stelle beim Arbeitgeber vorhanden ist.[16]
Eine Einladung ist nur dann entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt, § 165 Satz 4 SGB IX.
Das Fehlen der fachlichen Eignung muss dabei „offensichtlich“ sein. Dies bedeutet, dass unzweifelhaft für den Arbeitgeber erkennbar sein muss, dass der Bewerber mit seinem Profil auf das Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle keinesfalls die fachliche Eignung besitzt.[17] Hierzu reicht es nicht aus, dass ein bestimmter geforderter Ausbildungsabschluss nicht vorliegt, wenn ein möglicher gleichwertiger Bildungsabschluss bei dem Bewerber besteht.[18] Bloße Zweifel an der fachlichen Eignung genügen nicht.[19]
Beispiel:
Bewirbt sich auf eine Stellenausschreibung eines Sozialpädagogen ein schwerbehinderter Bewerber mit einem Studium der Sozialwissenschaften, wird eine offensichtliche Ungeeignetheit wohl schon nicht mehr angenommen werden können.
Verstößt ein Arbeitgeber gegen diese Verpflichtung, können kollektiv- und individualrechtliche Folgen drohen.
Einerseits besteht für einen gewählten Personalrat ein Zustimmungsverweigerungsrecht, da der Verstoß gegen die Einladungspflicht einen Gesetzesverstoß darstellt.
Andererseits kann der abgelehnte Bewerber auch klageweise einen Entschädigungsanspruch gem. § 15 Abs. 2 AGG wegen fehlender Einladung zum Vorstellungsgespräch geltend machen. Die Nichteinladung führt zur (kaum) widerleglichen Vermutung einer Benachteiligung i. S. d. § 22 AGG, da der erfolglose Bewerber wegen der Schwerbehinderung nicht berücksichtigt wurde.[20] Die Höhe der Entschädigung ist dabei regelmäßig in der Spanne von einem bis drei Bruttomonatsgehältern der zu besetzenden Stelle beschränkt.
Für die Praxis bedeutet dies: Sobald sich ein schwerbehinderter oder gleichgestellter Mensch auf eine Stelle bewirbt und das Bewerberprofil auch nur ansatzweise auf die ausgeschriebene Stelle passt, ist immer anzuraten, den Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
b) Im Betrieb ist ein Betriebsrat, aber keine Schwerbehindertenvertretung gewählt
Ist bei dem Arbeitgeber zwar keine Schwerbehindertenvertretung, aber ein Betriebsrat gewählt, sind die Grundsätze aus § 164 Abs. 1 Sätze 7 bis 9 SGB IX übertragbar.
Variante 1: Pflichtbeschäftigungsquote ist nicht erfüllt
Ein Arbeitgeber, der einen schwerbehinderten Menschen nicht einstellen
will, muss auch in diesem Fall dem Betriebsrat diese Entscheidung mitteilen.
Ist der Betriebsrat mit der Entscheidung nicht einverstanden, ist diese zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber zu erörtern. Dabei ist auch hier der abgelehnte Bewerber anzuhören.
Sofern der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung bleibt, muss diese gegenüber dem Betriebsrat und dem Bewerber unverzüglich begründet werden, § 164 Abs. 1 Sätze 7 und 9 SGB IX.[21]
Variante 2: Pflichtbeschäftigungsquote ist erfüllt
Ist die Pflichtbeschäftigungsquote nicht erfüllt, muss der Arbeitgeber, der den schwerbehinderten Menschen nicht zum Bewerbungsgespräch einladen will und nicht einstellen will, wenn der Betriebsrat mit dieser Entscheidung nicht einverstanden ist, keine weitere Erörterung vornehmen und auch den schwerbehinderten Menschen nicht anhören. Auch eine anschließende Unterrichtung entfällt in diesem Fall.
c) Im Betrieb sind weder Betriebsrat noch Schwerbehindertenvertretung gewählt
Ist beim Arbeitgeber weder ein Betriebsrat noch eine Schwerbehindertenvertretung gewählt, gibt es weder eine Erörterungs- noch eine Begründungs- und Unterrichtungspflicht.
Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Pflichtbeschäftigungsquote erfüllt ist oder nicht.
Zu beachten ist aber, dass dies nicht zur Folge hat, dass die Vorgaben zur Einschaltung der Arbeitsagentur und der Prüfung eingehender Bewerbungen außer Acht gelassen werden dürfen. Auch hier sind weiter die ausgeschriebenen Stellen darauf zu prüfen, ob sie mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können.
Wird dies unterlassen, wird auch hier stets angenommen werden können, dass durch die Nichtbeachtung der Vorgaben aus § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine Diskriminierung erfolgt ist.
[1] Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX § 164 Rn. 20.
[2] LAG Berlin-Brandenburg v. 27.11.2019 – 15 Sa 949/19.
[3] LAG Berlin-Brandenburg v. 27.11.2019 – 15 Sa 949/19 Rn. 31: „Sinn und Zweck der Informationspflichten ist es, dass der Arbeitgeber frühzeitig Transparenz über die eingegangenen Bewerbungen gegenüber den betrieblichen Interessenvertretungen schafft, soweit es um Bewerbungen schwerbehinderter Menschen geht. (…) All dies ist nur möglich, wenn der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung zielgerichtet über eingegangene Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen informiert. Wollte man dies anders beurteilen, bestünde die Gefahr, dass die Schwerbehindertenvertretung bei Durchsicht der umfangreichen Unterlagen übersieht, dass auch Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen vorliegen.“.
[4] BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 635/03.
[5] Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX mit BGG 5. Auflage 2023, § 164 Rn. 13a.
[6] BAG v. 20.1.2016 – 8 AZR 194/14 mit einem Hinweis, dass ein Verzicht auch eine Diskriminierung bedeuten könnte.
[7] BAG v. 23.6.2010 – 7 ABR 3/09.
[8] Kleinebrink ArbRB 2012, 161 m. w. N.
[9] LAG Bremen 22.11.2012 – 4 TaBV 32/11.
[10] BT-Drs. 14/3372, 15; LAG Hamm v. 28 9.2010 – 9 Sa 865/10.
[11] Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX mit BGG 5. Auflage 2023, § 164 Rn. 23.
[12] LAG Berlin-Brandenburg v. 16.11.2011 – 24 Sa 1606/11.
[13] BAG v. 21.2.2013 – 8 AZR 180/12.
[14] Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX § 165 Rn. 2.
[15] BAG v. 27.8.2020 – 8 AZR 45/19.
[16] LAG Sachsen v. 22.8.2022 – 2 Sa 144/21.
[17] Zum Beispiel BAG 11.8.2016 – 8 AZR 375/15.
[18] BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05.
[19] BAG v. 11.8.2016 – 8 AZR 375/15.
[20] Ständige Rechtsprechung seit BAG v. 12.2.2005 – 9 AZR 635/03.
[21] BAG v. 21.2.2013 - 8 AZR 180/12.