RICHARD BOORBERG VERLAG

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26.04.2022

Rehabilitation

„Medizinische Rehabilitation (§ 40 SGB Vbzw. § 15 SGB VI) vor Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V)“

Ein zulässiges Prinzip?

Sowohl private als auch gesetzliche Krankenversicherungsträger konfrontieren in letzter Zeit verstärkt psychisch kranke Versicherte, die um eine Kostenübernahmeerklärung für eine Behandlung in einer Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie nachsuchen, mit einer Ablehnung des Inhalts. Bedingt durch die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung sollte bei gerade und nur diesem Sozialversicherungsträger die Finanzierung einer solchen Leistung beantragt werden. Das Ziel einer entsprechenden Maßnahme bestünde in der Erhaltung der Erwerbsfähigkeit. Hierfür hätte die Krankenversicherung keine Zuständigkeit. Nur wenn der Rentenversicherungsträger in dieser Antragssache ebenfalls eine Ablehnung aussprechen sollte, wäre der Krankenversicherungsträger bereit, die Notwendigkeit der Bewilligung dieser Leistung zu überprüfen.

Diese Verwaltungspraxis wirft insbesondere Fragen nach dem Selbstverständnis wie dem Verhältnis zwischen der Krankenhausbehandlung und stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf.

von Dr. Manfred Hammel, Juristischer Mitarbeiter, Mitarbeiter- und Schwerbehindertenvertreter beim Caritasverband für Stuttgart e.V.

A) Grundsätzliches

Sowohl in Bezug auf die Krankenhausbehandlung als auch hinsichtlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gibt § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V bzw. § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB V das Prinzip „ambulant vor stationär“ vor: Maßnahmen haben so viel wie möglich ambulant und so wenig wie nur irgend nötig stationär zu erfolgen.

Die vollstationäre Versorgung versteht sich hiernach als das letzte anwendbare Mittel („ultima ratio“), das nur dann zur Anwendung gelangen darf, wenn im ambulanten Bereich erwiesenermaßen keine ausreichende Behandlung erfolgen kann.

In § 9 SGB IX wird den Rehabilitationsträgern die „vorrangige Prüfung von Leistungen zur Teilhabe“ festgeschrieben:

Dies schließt es gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB IX i.V.m. § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ein, dass Leistungen zur Rehabilitation grundsätzlich Vorrang vor Rentenleistungen haben, sofern sich hierdurch eine Verrentung wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) verhindern und damit das Ausgabenvolumen der gesetzlichen Rentenversicherung in Grenzen halten lässt.

Im Gegensatz zu den vorab erwähnten Grundprinzipien geht der Grundsatz „Rehabilitation vor akutstationärer Behandlung“ aus dem Gesetz nicht hervor. Es fehlt an einer entsprechenden Legaldefinition.

In der Praxis wird hingegen regelmäßig ein zweistufig angesetztes Vorgehen umgesetzt:

Einer vollstationär durchgeführten Akutbehandlung – z.B. wegen eines Infarkts, eines schweren Unfalls oder eines Nervenzusammenbruchs, wo zu einer Krankenhausbehandlung jeweils keine Alternative besteht – schließt sich eine Phase zur medizinischen Rehabilitation an.

Eine Behinderung (§ 2 Abs. 1 SGB IX) soll einer Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft nicht entgegenstehen. Das Ziel der medizinischen Rehabilitation besteht in der Sicherung des Behandlungserfolgs, damit diese Klientel den Anforderun- gen, die der Alltag an sie stellt, möglichst problemlos entsprechen kann1. Die körperlichen, psychischen und sozialen Folgen einer Behinderung sowie eine hierdurch verursachte Störung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft2 sollen auf ein Minimum beschränkt werden3, wenn die Mittel und Möglichkeiten der Krankenbehandlung nach den §§ 27 ff. SGB V nicht ausreichen, der Entstehung von sozialen Beeinträchtigungen, einer Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) oder von Pflegebedürftigkeit (§§ 14 ff. SGB XI) vorzubeugen oder derartige Ausprägungen deutlich abzumildern4.

B) Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)

Das BSG äußerte sich zu dieser Thematik – gerade in Fällen von gesetzlich krankenversicherten Personen mit einem psychiatrischen Krankheitsbild – in mehreren Entscheidungen und brachte die nun folgenden Punkte zum Ausdruck:

Im Fall eines Antragstellers, der bereits mehrere Behandlungs- phasen in psychiatrischen Kliniken durchlief und dem nach einem schweren Unfall von seinem Facharzt eine weitere, entsprechende Krankenhausbehandlung verordnet wurde, stellte sich seine gesetzliche Krankenkasse auf den Standpunkt, von ihr wäre bereits eine ausreichende Akutbehandlung im stationären Rahmen finanziert worden. Hier müsse deshalb eine Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation erfolgen. – Das oberste deutsche Sozialgericht folgte mit Urteil vom 20.1.20055 dieser Auffassung aber nicht und führte aus:

  1. Im Bereich der Psychotherapie stellt sich die Abgrenzung zwischen einer vollstationären Krankenhausbehandlung und einer stationären Rehabilitationsmaßnahme schwierig sowie die Übergänge fließend dar. – Beide Einrichtungen sind auf die Behandlung von Krankheiten und auf die Beseitigung der hiervon ausgehenden Folgen gerichtet, wenn auch eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung besteht.
  2. Eine Differenzierung kann an dieser Stelle im Wesentlichen nur nach der Art der Einrichtung, den Behandlungsmethoden und dem Hauptziel der einzelnen Maßnahme getroffen werden.
  3. Es bedarf hier stets einer umfassenden Berücksichtigung der den jeweiligen Behandlungsfall prägenden Besonderheiten.
  4. Für eine Krankenhausbehandlung besteht z.B. das Erfordernis, wenn psychiatrische Krankheitsbilder feststellbar sind, denen erhebliche, behandlungsfähige seelische Fehlhaltungen zugrunde liegen.
  5. Auch bei einem chronischen seelischen Leiden kann eine stationäre Akutbehandlung notwendig sein, wenn sich eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustands (z.B. bei andauernder Suizidalität) vollzieht.
  6. Sofern eine eingehende Behandlung der psychischen Erkrankung und nicht lediglich eine Milderung der hiervon ausgehenden Folgen für den Alltag eines Versicherten im Vordergrund steht, hat eine Krankenhausbehandlung zu erfolgen. In diesem Fall sind einzig die Mittel und Möglichkeiten dieser Klinik, die insbesondere durch eine hohe ärztliche und therapeutische Betreuungsdichte gekennzeichnet sind, was eine Rehabilitationsklinik in dieser Form nicht bieten kann, als geeignet und erforderlich aufzufassen, um einem derart ausgeprägten Leidenszustand angemessen zu begegnen.

Diese Rechtsprechung wurde in der Folgezeit weiter ausgebaut:

Das BSG unterstrich mit Urteil vom 16.2.20056 in einem ähnlich gelagerten Fall den wichtigen Aspekt, dass § 39 SGB V stets im Lichte von § 27 Abs. 1 Satz 4 SGB V ausgelegt zu werden hat:

Bei der Krankenbehandlung ist hiernach den besonderen Bedürfnissen psychisch kranker Versicherter Rechnung zu tragen.

Entsprechendes gilt gerade dann, wenn infolge der Schwere des psychischen Leidens Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf eine engmaschige Kontrolle und Beobachtung der von ihnen beklagten gesundheitlichen Verfassung in einem Fachkrankenhaus angewiesen sind, damit bei eintretenden kritischen Entwicklungen sofort und wirksam reagiert werden kann. – Bei solchermaßen sich darstellenden Gegebenheiten ist eine vorrangige Einleitung einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nicht vertretbar7.

Der Große Senat des BSG stellte mit Beschluss vom 25.9.20078 allerdings ebenfalls heraus, eine von der GKV nach § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V finanzierte Krankenhausbehandlung hätte stets einem konkreten Behandlungszweck, für den einzig medizinische Gründe von maßgebender Bedeutung sind, zu dienen:

Für Maßnahmen und Leistungen, die nicht durch eindeutig medizinische Erfordernisse der Krankheitserkennung oder -behandlung veranlasst, sondern auf unzureichende gesellschaftliche und soziale Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, hätte der GKV keine Zuständigkeit zugewiesen erhalten9.

C) Die Umsetzung der Rechtsprechung des BSG durch die Tatsacheninstanzen

Den vom obersten deutschen Sozialgericht vertretenen Standpunkten gemäß ist eine Krankenhausbehandlung als eine „komplexe Gesamtleistung“, die eine Vielzahl von Maßnahmen umfasst, die im Rahmen einer ambulanten Behandlung oder einer medizinischen Rehabilitation entweder überhaupt nicht oder nicht in der erforderlichen Art und Weise, insbesondere nicht in dieser Kombination und Konzentration erfolgen können, aufzufassen:

Ein psychiatrisches Fachkrankenhaus weist eine Ausrichtung darauf auf, die von ihm anzustrebenden Behandlungsziele überwiegend durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen, durch das Zusammenwirken eines multiprofessionellen Teams von Psychiatern, Psychologen, Sozialpädagogen sowie weiterer Fachkräfte im Rahmen einer hochfrequenten Behandlung zu erreichen10. – Für eine Rehabilitationsklinik ist hingegen kennzeichnend, dass von dieser Einrichtung nach ärztlichem Behandlungsplan primär therapeutisch ausgerichtete Anwendungen zur Stabilisierung des bereits erreichten Zustands und zur Entwicklung eigener (Abwehr-)Kräfte zur sozialen (Wieder-)Eingliederung erbracht werden11.

Die objektive Vertretbarkeit eines Krankenhausaufenthalts hat stets bejaht zu werden, wenn diese Behandlung nach den sich zum Aufnahmezeitpunkt darstellenden medizinischen Erkenntnissen als erforderlich aufzufassen ist, zumindest eine Verhinderung einer Verschlimmerung des Krankheitszustands, eine Verlangsamung des Krankheitsprozesses oder eine Beseitigung unmittelbarer Krankheitsfolgen, um alltägliche Fähigkeiten wiederherzustellen, zu erzielen12. – Im Zusammenhang mit der Behandlung eines psychiatrischen Krankheitsbilds ist deshalb versichertenseitig eingehend darzulegen, aufgrund welcher Gegebenheiten von einem Bestehen eines stationär behandlungsbedürftigen und -fähigen Leidens auszugehen ist13.

Wenn im vollstationären Rahmen in erster Linie diagnostische und therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden, um die Art und das Ausmaß einer Erkrankung sowie die Wirkungsweise möglicher medizinischer Therapien zu ergründen und die auf dieser Grundlage gebotenen behandlerischen Schritte festzulegen, dann liegt eine von der GKV nach § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V zu finanzierende Krankenhausbehandlung vor. An dieser Stelle erfolgt eine Leistung, die darauf abzielt, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen oder zu lindern14, und die sich nicht nur in der Sicherung des bisherigen Behandlungserfolgs erschöpft, weshalb eine Vorrangigkeit gegenüber einer Rehabilitationsbehandlung besteht15. – Hier hat aber stets erwiesen zu sein, dass die bei versicherten Personen feststellbaren Krankheitsbilder gerade und nur mit den Mitteln eines Krankenhauses unter stationären Bedingungen heilbar sind.

Wenn diese Akutphase als abgeschlossen aufgefasst zu werden hat und es sind lediglich noch die aus der festgestellten Betroffenheit mit einer Erkrankung oder Behinderung ausgehenden Folgewirkungen zu therapieren, dann hat die GKV allerdings keine Zuständigkeit zur Finanzierung von stationären Leistungen nach § 39 SGB V mehr.

Das Sozialgericht Hildesheim vertrat mit Urteil vom 29.6.201016 den Standpunkt, bei einer Betroffenheit einer gesetzlich krankenversicherten Person mit Adipositas stellt zwar die Durchführung einer erforderlichen chirurgischen Therapie, die einzig im vollstationären Rahmen erfolgen kann, eine gemäß den §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 und 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V von einem Träger der GKV zu finanzierende (Akut-) Krankenhausbehandlung dar. – Dies lässt sich aber hinsichtlich einer sich hieran unmittelbar anschließenden Adipositastherapie nicht vertreten:

Dies stellt eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§§ 9 und 15 SGB VI) dar. Während dieser Phase werden der anspruchsberechtigten Klientel gegenüber in erster Linie nichtärztliche Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapieanteile, die dazu beitragen sollen, dass sich entweder kein erneutes, extremes Übergewicht einstellt oder ein solcher Zustand sich deutlich abbaut, erbracht.

Ein Rentenversicherungsträger hat hier allerdings nur so lange eine Zuständigkeit, wie sich durch eine solche Maßnahme die (erneute) Ausbildung einer Adipositas und der hierfür ursächlichen bzw. der hiervon ausgehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Erwerbsfähigkeit eines Arbeitnehmers (noch) entsprechend § 10 Abs. 1 Nr. 2 b) SGB VI positiv beeinflussen lässt. – Wenn dieser Aspekt nicht (mehr) bejaht werden kann, dann haben die zur Behandlung dieser Krankheit und ihrer Auswirkungen erforderlichen Leistungen von der gesetzlichen Krankenkasse nach den §§ 27 ff. SGB V bewilligt zu werden.

Das LSG Berlin-Brandenburg stellte mit Urteil vom 8.6.201117 im Fall eines multimorbiden, alkoholabhängigen Versicherten heraus, einzig die aus einem Alkoholmissbrauch resultierenden Erkrankungen als solche würden grundsätzlich keine vollstationäre Behandlung entsprechend § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V erforderlich machen. – Dies ist lediglich bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen der gesundheitlichen Verfassung – wie z.B. bei einer alkoholischen Leberzirrhose oder anderen Vergiftungserscheinungen – vertretbar.

Auch wiederholte Trinkrückfälle stünden einer Alkoholentwöhnungsbehandlung grundsätzlich nicht entgegen. Diese Problematik könnte im Rahmen einer entsprechenden Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation durchaus aufgegriffen werden18.

Notwendig ist hier stets ein auf den Einzelfall bezogener (Gesamt-)Behandlungsplan, der bestimmt, welches Ziel im Vordergrund steht:

Die Behandlung einer schweren Erkrankung oder die der Schädigungsfolgen. – In dieser Entscheidung räumte das Berufungsgericht allerdings ausdrücklich ein:

„Es lässt sich kaum unterscheiden, was noch zur Behandlung der Krankheit gehört, welche Therapieformen insbesondere bei chronischen Krankheiten noch zur Krankheitsbekämpfung zu rechnen sind, und wann eine Maßnahme „nur“ zur Sicherung des Erfolgs einer vorangegangenen Behandlung dient. Die therapeutischen Maßnahmen in der Krankenhausbehandlung sind der Art nach dieselben wie in der Rehabilitation“. – Im damals entschiedenen Fall sprachen aber spezifische Besonderheiten gegen die Durchführung einer Krankenhausbehandlung:

Insbesondere das Fehlen eines umfassenden Behandlungs- plans wie auch exakt definierter Behandlungsziele; dies stand der zuverlässigen Einschätzung, ob hier ein vollstationärer Aufenthalt in erster Linie der Krankenbehandlung dienen soll, entgegen.

 

D) Kein (unbedingter) Vorrang stationärer Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vor der vollstationären Krankenbehandlung

Krankenhausbehandlung und stationäre medizinische Rehabilitation stehen in einer besonderen Wechselwirkung zueinander:

Eine Krankenhausbehandlung hat in diesem Verhältnis erkrankte Versicherte so weit zu stabilisieren, dass diese Personen fähig sind, Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation in Anspruch nehmen zu können, damit unbewältigte Krankheitsfolgen einer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft möglichst nicht entgegenstehen.

Eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation im Sinne des § 40 SGB V bzw. § 15 SGB VI setzt allerdings den Abschluss der Behandlungsphase gemäß § 39 SGB V voraus. – Ein Bestehen einer weiteren, akuten Behandlungsbedürftigkeit steht dem Sinn und Zweck der medizinischen Rehabilitation deutlich entgegen:

Die Rehabilitationsfähigkeit hat vor Maßnahmenbeginn festzustehen19. Die eine Rehabilitationsphase durchlaufenden Personen müssen nach Kräften für sämtliche notwendigen medizinischen und therapeutischen Maßnahmen zur Verfügung stehen und dürfen nicht krankheits-/behinderungsbedingt an dieser Mitwirkung gehindert sein. – Bei einem entsprechenden Befund hat die Einleitung von Maßnahmen nach den §§ 27 ff. SGB V wiederum absoluten Vorrang. Auf eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation darf nicht verwiesen werden, solange und sofern Versicherte zur gesundheitlichen Stabilisierung noch auf eine Krankenbehandlung angewiesen sind.

Bereits aus diesem zentralen Aspekt heraus können Krankenkassen ihre Mitglieder jedenfalls nicht pauschal auf den Grundsatz „Reha vor akutstationär“ verweisen. – Von ausschlaggebender Bedeutung sind hier stets die den jeweiligen Einzelfall prägenden Besonderheiten:

Das Sozialgericht Regensburg vertrat mit Gerichtsbescheid vom 4.2.201920, dem der Fall einer sich seit längerer Zeit in ambulanter Psycho- und medikamentöser Therapie befindenden gesetzlich krankenversicherten Person, die nach ärztlicher Verordnung in einer zugelassenen Privatklinik für Psy- chosomatik weiter zu behandeln war, zugrunde lag, den Standpunkt, ein Träger der GKV dürfe nicht darauf verweisen, hier wäre die Einleitung einer stationären psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme vorrangig. Dies gilt auch dann, wenn vollkommen unstreitig von einer Gefährdung der Erwerbsfähigkeit dieser Person auszugehen ist.

Die bislang ergebnislos verlaufende ambulante Psychotherapie bei einer gleichzeitigen, komplexen Symptomatik sprach hiernach – auch wenn kein Akutereignis wie ein Nervenzusammenbruch oder eine krisenhafte Zuspitzung der gesamten Situation vorlag – für die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung auch bei einem Bestehen eines chronischen Leidens. Die Behandlungsziele (hier: eine umfassende seelische Stabilisierung, um eine Linderung des Krankheitsbilds zu bewirken und eine ambulante Weiterbehandlung zu ermöglichen) ließen sich in diesem Fall nur im Rahmen einer Leistung nach § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3, 1. HS SGB V erreichen. – § 39 Abs. 1 Satz 3, 2. HS SGB V darf hier nicht in der Weise interpretiert werden, dass die im Krankenhaus geleistete stationäre Versorgung einzig die Akutbehandlung darstellt:

In diesem Zusammenhang ist stets der Aspekt von ausschlaggebender Bedeutung, ob die jeweilige Erkrankung in ihrer konkreten Ausprägung auf der Grundlage einer gesicherten medizinischen Prognose der Krankenhausbehandlung bedarf, und eine ambulante oder eine Rehabilitationsbehandlung nicht als ausreichend einzuschätzen ist. – Bei einem chronischen psychischen Leiden kann eine Akutbehandlung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V durchaus erfolgen, sofern eine deutliche Verschlechterung der gesundheitlichen Verfassung feststellbar ist oder sich gar ein vollkommen neuer Krankheitsschub abzeichnet21.

Wenn bedingt durch die gesamte, sehr angegriffene gesundheitliche Verfassung einer krankenversicherten Person davon auszugehen ist, dass bei ihr die Notwendigkeit einer „intensiven Behandlung durch jederzeit präsenten oder rufbereiten Arzt“ besteht, dann kann diesem wichtigen Aspekt lediglich in einem Fachkrankenhaus, das gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 3 SGB V ausreichend ausgestattet ist, über die Erbringung der erforderlichen ärztlichen und pflegerischen Hilfeleistungen entsprochen werden. – Eine Rehabilitationsklinik, die einer anderen Aufgabenstellung nachzukommen hat, nämlich „u ter ständiger ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders geschultem Personal (...) den Gesundheitszustand der Patienten nach einem ärztlichen Behandlungsplan (...) zu verbessern und den Patienten bei der Entwicklung eigener Abwehr- und Heilungskräfte zu helfen“ (§ 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V), stellt bei entsprechenden Gegebenheiten kein geeigneter Ort dar.

Die Beantwortung der Frage nach der Zuordnung der Versorgung kranken- und rentenversicherter Personen entweder zum Sektor der Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V) oder zu dem der stationären medizinischen Rehabilitation (§ 40 SGB V bzw. § 15 SGB VI) hat stets in Abhängigkeit von der im Einzelfall erforderlichen Intensität der (fach-)ärztlichen Tätigkeit und den jeweils angestrebten Behandlungszielen zu erfolgen:

Für die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung kann der Aspekt von ausschlaggebender Bedeutung sein, wenn im ambulanten Rahmen die gebotenen ärztlichen und therapeutischen Leistungen zwar gemäß Behandlungsplan in Anspruch genommen wurden, dies aber nicht zu einer durchgreifenden Besserung der geschwächten gesundheitlichen Verfassung führte.

Hier ist eine intensivmedizinische Behandlung im Rahmen einer Leistung nach § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3, 1. HS SGB V zur Verhinderung einer Verschlimmerung als erforderlich einzuschätzen.

Bei derartigen Gegebenheiten kann eine Rehabilitationsbehandlung im Anschluss an diese von der Krankenversicherung zu finanzierende stationäre Behandlung grundsätzlich durchaus erfolgen, damit noch bestehende Krankheitsfolgen mit den erforderlichen Mitteln angegangen werden, sodass eine (weitere) Teilhabe am Arbeitsleben möglich ist22.

Anmerkungen

  1. Vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 10.10.2017 – L 11 KR 131/16 – br 2019, 168 ff., 170/171, das auf die Verpflichtung des zuständigen Krankenversicherungsträgers zur Finanzierung einer Adaptionsphase als einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation (§ 40 SGB V) im Fall einer nicht gesetzlich rentenversicherten, suchtkranken Bedürftigen, die aber Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse war, erkannte. – Eine Leistung, die den nun folgenden Zielen diente: „Herstellen der Berufs- und Erwerbsfähigkeit; Herste len eines drogenabstinenten Umfelds und soziale Neuorientierung; Aufbau befriedigender Neuorientierung; Aufbau befriedigender Freizeitaktivitäten; Aufbau und Verbesserung des Selbstwertgefühls, des Selbstbilds und der Selbstwirksamkeit; Aufbau und Erprobung rückfallprophylaktischer Strategien; Abbau des Perfektionismus und der Überforderungstendenzen; Entwicklung einer Zukunftsperspektive; Verbesserung der Selbstständigkeit und Verantwor- tungsübernahme“.
  2. Vgl. § 1 SGB IX: „Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“.
  3. Zum Definitionsproblem auch bei Endel, in: Jabornegg/Resch/Seewald: Medizi- nische Rehabilitation; Wien 2009, S. 1 ff., 3.
  4. Hierzu auch bei Benkowitsch, in: Jabornegg et. al.: Medizinische Rehabilita- tion, S. 21/22 und Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 40, Rn. 5 und 43.
  5. B 3 KR 9/03 R.
  6. B 1 KR 18/03 R.
  7. LSG Hessen, Urt. v. 10.4.2006 – L 2 R 45/05.
  8. GS 1/06.
  9. Das BSG erkannte mit Urt. v. 17.11.2005 (B 1 KR 20/15.R) im Fall eines alkoholabhängigen, multimorbiden Versicherten, der aus einem psychiatrischen Fachkrankenhaus nicht entlassen werden konnte, weil kein Platz im ambulant betreuten Wohnen im Rahmen der Eingliederungshilfe (§§ 90 ff. SGB IX) zeitnah zum ursprünglich vorgesehenen Entlassungstermin zur Verfügung stand, darauf, die in diesem Rahmen entstandenen Kosten des weiteren stationären Aufenthalts hätte die GKV nicht zu tragen, denn: Wenn ein Versicherter aus dem Krankenhaus in eine beschützende Umgebung entlassen werden kann, dann besteht keine stationäre Behandlungsbedürftigkeit im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V mehr. – Diese Revisionsinstanz vertrat allerdings mit Urt. v. 19.11.2019 (B 1 KR 13/19.R) die Auffassung, wenn die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit endet, weil ein Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr einer Versorgung mit den Mitteln des Krankenhauses bedarf, aber noch eine medizinisch zwingende Angewiesenheit auf eine spezielle stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation besteht, weil eine auch nur vorübergehende, ambulante Versorgung als unzureichend einzuschätzen ist, dann hat der zuständige Rehabilitationsträger auch für diese stationäre Maßnahme eine Zuständigkeit. Kommt dieser Sozialleistungsträger dieser Obliegenheit nicht nach, sodass der gesetzlich krankenversicherten Person bei einer Entlassung aus stationärer Krankenhausbehandlung eine Gesundheitsschädigung droht, dann ist das Krankenhaus entsprechend dem Rechtsgedanken des § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V berechtigt, diese Person für die Zeit des Andauerns dieses Notfalls zu den Sätzen für eine weitere Krankenhausbehandlung zu versorgen und die Erstattung dieser Kosten vom Träger der GKV erstattet zu verlangen: In dieser Entscheidung wurde der Begriff der „stationären medizinischen Notfall-Reha“ geprägt, die in diesem Fall nach Lage der Dinge, insbesondere mangels akzeptabler und zumutbarer Alternativen, nach § 39 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V von der zuständigen gesetzlichen Krankenkasse zu finanzieren war.
  10. Hierzu auch bei Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 39, Rn. 72 ff.
  11. Hierzu auch bei Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 39, Rn. 80 ff. sowie K § 40 Rn. 5 ff.
  12. BSG, Urt. v. 10.4.2008 (B 3 KR 19/05 R und B 3 KR 14/07 R) sowie ähnlich lautend im Fall einer privat krankenversicherten Person das Landgericht München I mit Urt. v. 17.11.2008 (9 O 10707/07).
  13. Im vom LSG Berlin-Brandenburg mit Urt. v. 30.4.2009 (L 9 KR 1222/05) entschiedenen Fall wurde dieser Aspekt wegen einer fehlenden, dezidierten Untermauerung der anspruchsbegründenden Ausführungen verneint, weshalb in dieser Entscheidung der Tenor der war, die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen könnten insbesondere im Rahmen einer stationären Rehabilitationsbehandlung erfolgen. Hier war ungeklärt, welche spezifischen Mittel eines psychiatrischen Fachkrankenhauses zur Behandlung der bestehenden seelischen Leiden erforderlich waren. – Das Sozialgericht Lübeck erkannte mit Urt. v. 26.6.2007 (S 1 KR 485/04) hingegen auf eine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit einer psychisch kranken Versicherten und gegen im Vordergrund stehende rehabilitative Aspekte: In dieser Entscheidung wurde die Überzeugung vertreten, den Selbstverletzungen als Folge einer latenten Suizidalität, mit denen diese Versicherte in eine psychiatrische Klinik aufgenommen wurde, „wäre mit einer medizinischen Rehabilitation nicht zu begegnen gewesen“. Die in diesem Fall vom verantwortlichen Krankenhausarzt vertretene Einschät- zung, dass die Notwendigkeit einer (weiteren) vollstationären Behandlung besteht, müsse vom Krankenversicherungsträger „hingenommen werden, sofern sie vertretbar ist, weil der Arzt auch die volle strafrechtliche und zivilrechtliche Verantwortung für seine Entscheidung trägt“.
  14. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
  15. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.6.2013 (L 11 KR 3897/11) und Urt. v. 27.2.2015 (L 4 KR 4079/13) sowie zu diesem Aspekt auch das LSG Schleswig- Holstein, Beschl. v. 14.1.2016 (L 5 R 236/15.B.ER), wo allerdings auch dasErfordernis eines „ausreichend ermittelten medizinischen Sachverhalts“ als eine tragfähige Entscheidungsgrundlage für eine entsprechende Abgrenzung herausgestellt wird.
  16. S 14 R 473/08.
  17. L 9 KR 504/08.
  18. Hierzu auch bei Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 40, Rn. 36 und 37.
  19. Diesen Aspekt stellte das LSG Schleswig-Holstein mit Beschl. v. 14.1.2016 (L 5 R 236/15.B.ER) heraus: In dieser Entscheidung erging gegen den beklagten Rentenversicherungsträger in Beachtung dieses Aspekts lediglich ein Beschei dungsurteil. Dieser Sozialversicherungsträger hatte hier im Einzelnen abzuklä- ren, ob der antragstellende psychisch kranke Versicherte „überhaupt einen Anspruch auf stationäre Rehabilitationsleistungen hat. So können die durchzu- führenden Ermittlungen zu dem Ergebnis führen, dass vorrangig eine Kran- kenbehandlung, ambulant oder stationär, vor einer weiteren Rehabilitations- maßnahme erforderlich ist”.
  20. S 8 KR 749/17.
  21. BSG, Urt. v. 20.1.2005, B 3 KR 9/03 R.
  22. § 9 Abs. 1 SGB VI.

 

 

 

 

 

 

Quelle:
Behinderung und Recht. Fachzeitschrift für Inklusion, Teilhabe und Rehabilitation, Heft 1/2022 S. 11-15