1. Sachgerechtes polizeiliches Handeln
Die zitierten Fälle zeigen, dass ein Polizist aus zwei entgegengesetzten Gründen in eine gewalttätige Auseinandersetzung geraten kann:
1. Er provoziert durch rechthaberisches oder beleidigendes Verhalten eine Person.
2. Er provoziert durch unprofessionelles Vorgehen oder durch Signale der Schwäche den Angriff einer gewaltbereiten Person.
Zunächst einmal wird deutlich, dass diese beiden oben erwähnten Problemsituationen mehrere Dinge gemeinsam haben.
- In beiden Problemsituationen ist das berufliche Handeln nicht sachgemäß. Es werden im ersten Fall z.B. die Maßnahmen nicht erklärt, es wird überreagiert. Im zweiten Fall wird zu wenig reagiert, zu wenig konsequent und entschlossen gehandelt.
- In beiden Problemsituationen steht nicht das konsequente polizeiliche Handeln im Vordergrund, sondern die Person des Polizisten. Im ersten Fall ist sie viel zu dominant (oder sogar aggressiv), im zweiten Fall zu schwach und zu wenig dominant.
Aus diesen beiden Gesichtspunkten ergibt sich schon, wie man das Konfliktpotenzial von Situationen verringern kann: Das konsequente sachgerechte Vorgehen, verbunden mit Erklärungen für die zu treffenden Maßnahmen, löst den Eindruck der Professionalität aus („Der versteht seine Sache, dem kann man nichts vormachen!“) und auch zumeist den Eindruck der Fairness!
- In beiden Problemsituationen wird keine angemessene Kontrolle über diese Situation übernommen. Durch das extreme Zeigen von Macht signalisiert der Polizist nicht nur, dass er keine richtige Dosierung für die Situation benutzt, sondern auch, dass ihm die Gelassenheit fehlt, in eine Interaktion mit dem anderen einzutreten. Aber auch durch das entgegengesetzte Verhalten – zögerliches oder passives Verhalten, besonders in Krisensituationen – kann ein Polizist gefährdet werden, weil er dadurch nicht nur zeigt, dass er nicht die Fähigkeit besitzt, diese Situation zu bewältigen, sondern auch versäumt, die Kontrolle der Situation zu übernehmen. Dadurch kann ein Gewaltbereiter die Initiative an sich reißen und den Polizisten angreifen.
Es wird aus der Analyse z.B. deutlich, dass man zu wenig oder zu stark dominant sein kann. Was bedeutet das konkret für die polizeiliche Praxis?
Offensichtlich tritt alleine dadurch schon ein Problem auf, dass man meint, man müsse sich immer gleich verhalten, z.B. immer freundlich.
Andererseits ist der Hinweis, dass man sich eben je nach der Situation unterschiedlich zu verhalten habe, viel zu allgemein gehalten. Denn es wird dadurch nicht deutlich, wie man sich in Situation 1, Situation 2, Situation 3 verhalten soll usw.
Man muss also erkennen, dass es keineswegs nur ein richtiges Verhalten gibt, sondern dass man die Balance zwischen zu wenig und zu viel Dominanz finden muss.
Hilfreich sind hier zwei Modelle: die zwischenmenschliche Spieltheorie (Füllgrabe, 1997, 2016; Toch, 1969) und die Steuerung sozialer Systeme (Dörner et al., 1983; Dörner, 1989). Aus beiden Modellen ergibt sich auch eine bestimmte innere Haltung, die für die Eigensicherung und auch allgemein für das Überleben gefährlicher Situationen (s. Siebert, 1996) notwendig ist.
Wie bereits bei der Entstehung von Gewalt aufgezeigt, sollte man zwischenmenschliche Begegnungen unter dem Gesichtspunkt einer zwischenmenschlichen Spieltheorie (Füllgrabe, 1997, 2016) betrachten. Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist nämlich kein statischer, starrer Zustand, sondern eine Kette von sprachlichen und nichtsprachlichen Ereignissen. Die beiden Personen reagieren aufeinander.
- Jeder Zug der einen Person löst wie bei einem Schachspiel den Zug einer anderen Person aus.
- Man muss im „Spiel des Lebens“ grundsätzlich damit rechnen, dass man neben friedlichen auch unkooperativen und feindseligen Strategien (= Personen) begegnet. Diese muss man rechtzeitig erkennen und sofort sachgemäß darauf reagieren.
Dass eine zwischenmenschliche Spieltheorie – wie bereits 1969 von Toch ansatzweise formuliert – gerade für das Überleben in gefährlichen Situationen sinnvoll ist, belegt z.B. die Tatsache, dass sich Polizisten von der scheinbaren Bereitschaft des Täters zur Kooperation täuschen ließen (Sessar et al., 1980) und dass das Vorgehen eines von de Becker (1999) beschriebenen Serienvergewaltigers genau der Strategie „Tranquilizer“ (Axelrod, 1991) entsprach: zuerst eine pseudovertrauensvolle Kommunikation zeigen, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, und dann zuschlagen.
Eine zwischenmenschliche Spieltheorie ist auch deshalb zur Betrachtung der Fähigkeit zum Überleben in gefährlichen Situationen notwendig, weil es hier nicht um rationale Wahlen und Entscheidungen wie bei der klassischen Spieltheorie geht. Darauf hatte schon Toch (1969) hingewiesen.
Beispielsweise geht es bei zwischenmenschlichem Verhalten auch um die Notwendigkeit, Lügen und Täuschungsversuche zu erkennen (s. Füllgrabe, 1995). Und im Gegensatz zum Schach werden bei zwischenmenschlichen Begegnungen die einzelnen „Züge“ nicht immer rational (im Sinne von „vernünftig“) durchgeführt, denn dabei fließen vor allem Selbstbilder, persönliche Mythen, Gefühle, Motive, der individuelle Bindungsstil (s. Kap. 19) usw. in den Entscheidungsprozess ein. Neben derartigen rein persönlichkeitspsychologischen Faktoren wirkt sich auch ein unrealistisches Weltbild negativ aus, z.B. die Unkenntnis von der Existenz sozialer Fallen:
Menschen oder ganze Organisationen gehen in eine Richtung, die am Anfang kurzfristige Erfolge bringt, positiv zu sein scheint, aber am Ende in eine negative Richtung geht, bis es dann zu spät ist und man in einer Falle sitzt wie ein Fisch, der in eine Reuse geraten ist. Typische Fälle dafür stellen das Kriminaldelikt des Betruges dar und die Phänomene, dass Frauen bei einem Mann bleiben, der sie schlägt (Füllgrabe, 1996), oder Frauen, die sich in Mörder verlieben und heiraten (Füllgrabe, 1997). Weil die Existenz von Fallen oft übersehen wird, handeln Menschen nicht immer rational, sondern relativ häufig irrational sogar gegen ihre eigenen Interessen, s. z.B. Frauen, die bei einem Mann bleiben, der sie schlägt.
Deshalb ist gerade die TIT FOR TAT-Strategie eine problemvermeidende Strategie bei vielen zwischenmenschlichen Problemen, bei Begutachtungen, Therapie, Partnerschaftsbeziehungen u.Ä. (Füllgrabe, 1996, 1997, 2016). Dass die Notwendigkeit dieser Strategie im Alltag leicht übersehen wird, hängt auch mit einer zu undifferenzierten Vorstellung vom Wesen zwischenmenschlichen Verhaltens zusammen. Beispielsweise zeigte Leary (1957), dass freundliche Verhalten zumeist beim Gegenüber ebenfalls freundliches Verhalten auslöst. Er wies aber auch ausdrücklich darauf hin, dass dies auch mit der Persönlichkeitsstruktur zusammenhängt und z.B. machtorientierte Personen Freundlichkeit leicht als Schwäche ansehen und als unausgesprochene Aufforderung, die Führung zu übernehmen (s. a. Füllgrabe, 1975).
2. Die TIT FOR TAT-Strategie
Bei den Computersimulationen von Axelrod (1991), bei denen die unterschiedlichsten kooperativen und unkooperativen Strategien miteinander spielten, erwies sich die TIT FOR TAT-(TFT-)Strategie als die erfolgreichste. Natürlich hängt der Erfolg derartiger Strategien auch von ihrer Umwelt (hier der Art der anderen Strategie) ab, doch auch in den meisten späteren Computerturnieren erwiesen sich die TIT FOR TAT-Varianten als die erfolgreichsten Strategien „im Spiel des Lebens“, z.B. die langfristig härter als TFT reagierende Variante SHUBIK (s. Füllgrabe, 1994).
TIT FOR TAT besteht nur aus zwei einfachen Regeln:
1. Sei grundsätzlich freundlich und kooperativ.
2. Sobald der andere unkooperativ, aggressiv usw. handelt, setze dich sofort zur Wehr. Sobald er wieder kooperativ handelt, sei auch wieder kooperativ.
Da eine ehemalige Schülerin von mir auf die Beschreibung dieser Strategie spontan sagte „Das praktiziere ich ja!“, scheint sie mir eine gute Richtlinie für polizeiliches Handeln zu sein.
TIT FOR TAT wird oft mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, „Schlag um Schlag“ o. Ä. gleichgesetzt. Doch wird das Vergeltungsprinzip in derartigen Definitionen unangemessen überbetont. Dies zeigt schon eine nähere Betrachtung der Herkunft des Begriffs. TIT FOR TAT leitet sich nämlich von der älteren Bezeichnung TIP FOR TAP her, wobei Tip bedeutet: leichter, sanfter Schlag oder eine leichte Berührung (The Concise Oxford Dictionary, 1983).
Dementsprechend bedeutet TIT FOR TAT keineswegs, dass eine massive Vergeltung als Reaktion auf unkooperatives Verhalten notwendig ist, sondern nur, dass eine merkbare Reaktion erfolgt, von sprachlichen Hinweisen bis hin zur polizeilichen Maßnahme oder Selbstverteidigung.
Man darf sich also nicht einfach alles gefallen lassen. Auf Fehlverhalten und unkooperatives Verhalten einer Person muss eine Reaktion, welcher Art auch immer, erfolgen. Dafür gibt es gewichtige Gründe:
Nur dadurch gewinne ich Respekt von einer potenziell gewaltbereiten Person. Wie das oben erwähnte Beispiel der jungen Polizistin zeigt, gilt der Grundsatz: Wenn ich provoziert oder angegriffen werde, muss ich die Kontrolle über die Situation übernehmen. Dies entspricht – wie auch die Notwendigkeit, nichtsprachliche Signale der Selbstsicherheit zu zeigen (Pinizzotto & Davis, 1999) – auch Erkenntnissen der Spieltheorie. Beggan und Messick (1998) betonen nämlich, dass kooperationsbereite Menschen Verhalten gemäß der Dimension gut–böse betrachten, unkooperative Personen dagegen gemäß einer Machtdimension. Während also kooperationsbereite Personen kooperatives Verhalten als gut und wünschenswert ansehen, setzen Unkooperative das kooperative oder passive Verhalten eines Menschen dagegen mit Schwäche gleich. Deshalb auch das Erstaunen vieler Täter, die Polizisten getötet hatten, darüber, dass der Polizist passiv blieb, duldete, dass der Täter eine Waffe nehmen oder sie sogar dem Polizisten aus der Hand nehmen konnte (!!) usw. Sie sagten, wären sie an der Stelle des Polizisten gewesen, hätten sie nicht zugelassen, dass ein Täter die Kontrolle über die Situation ergreift (Pinizzotto & Davis, 1995). Deshalb ist im zwischenmenschlichen Bereich die TIT FOR TAT-Strategie so erfolgreich, weil sie unmissverständlich signalisiert: Ich bin friedlich, werde mich aber sofort gegen unkooperatives, ausbeuterisches und gewalttätiges Verhalten zur Wehr setzen (= Frieden durch entschlossenes Auftreten). Beggan und Messick (1988) erklären das Erfolgsrezept der TIT FOR TAT-Strategie so: Sie ist fair, aber konsequent („fair but firm“).
Die folgende Übersicht zeigt, warum die TIT FOR TAT-Strategie für das polizeiliche Handeln wichtig ist und wie lange auch ein Polizist, der nicht danach handelt, so lange erfolgreich mit unangemessenem Verhalten Gewalt vermeidet: bis er einer gewaltbereiten Person begegnet!
Das konsequente Handeln der TIT FOR TAT-Strategie ist auch wichtig, um spätere Gewalt zu vermeiden. Aus den Erkenntnissen seiner Computerturniere formulierte Axelrod (1991, S. 90) dies so: Ein unkooperatives Lebewesen darf nicht einfach davonkommen; es darf nicht „in einem Meer der Anonymität“ verschwinden.
Dass unkooperatives Verhalten sich nicht auszahlen darf, ist lernpsychologisch wichtig. Wird auf aggressives, unkooperatives Verhalten nicht sofort deutlich reagiert, wirkt dies lernpsychologisch als Bekräftigung. Das bedeutet, dass dieses unangemessene Verhalten in Zukunft häufiger und intensiver auftreten kann. Beispielsweise werden die Taten von Serienmördern im Laufe der Zeit immer aggressiver und brutaler und treten in immer kürzeren Abständen auf, solange die Täter nicht gefasst werden (Füllgrabe, 1997, 2016).
Die Beachtung dieser Gesichtspunkte ist äußerst wichtig angesichts der konfliktscheuen Haltung vieler Menschen. Sie handeln nach dem Motto: „Nur nicht auffallen, keinen Ärger hervorrufen. lieber den Mund halten.“ Oder sie verschanzen sich hinter positiven gesellschaftlichen Normen: „Man muss doch nett, freundlich, höflich u. Ä. zueinander sein.“ Damit haben sie eine positive Rechtfertigung dafür, dass man bei Ungerechtigkeiten nicht protestiert, auf Fehlverhalten eines anderen nicht reagiert und es nicht unterbindet. So erspart man sich natürlich Zeit und Mühe, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen. Doch hat dies zwei langfristig gefährliche bzw. unangenehme Folgewirkungen:
1. Die Situation bessert sich nicht, sondern sie verschlimmert sich langfristig.
2. Man hat dann mehr Zeit, Mühe, Anstrengungen aufzuwenden, um das Problem zu lösen, falls dies überhaupt noch möglich ist!
Es ist so, wie der englische Schriftsteller Edmund Burke im 18. Jahrhundert schrieb: „Das Einzige, was für den Triumph des Bösen notwendig ist, besteht darin, dass gute Menschen nichts tun.“
Diese These von Burke lässt sich sogar mathematisch veranschaulichen. In den Computerturnieren von Axelrod (1991), wo um Punkte gespielt wurde, bekamen beispielsweise, wenn sie gegeneinander spielten:
- die Strategie „immer unkooperativ“ 1000 Punkte,
- die Strategie „immer kooperativ“0 Punkte.
Dagegen konnten unkooperative Strategien die TIT FOR TAT-Varianten langfristig nicht besiegen, deren großer Erfolg vor allem darauf beruhte, dass sie durch Kooperation mehr Punkte gewannen als die unkooperativen Strategien durch Ausbeutung.
3. Der Weg des Friedens
Die TIT FOR TAT-Strategie zeigt, dass man sich keineswegs alles gefallen lassen muss und dass Nichtstun beim Anblick von Gewalt keineswegs Konflikte verhindert, sondern eher noch verstärkt.
Gewaltfrei zu handeln ist ein wichtiges Ideal in einer harmonischen Gesellschaft. Es gibt aber Situationen, wo jemand seine Rechte wahren muss oder sich körperlich in Notwehr verteidigen muss. Wer hier konfliktscheu zurückweicht, kann sich nicht als „gewaltfrei“ im positiven Sinne bezeichnen, weil er einem Aggressor, einem Ausbeuter zum Erfolg verhilft und dessen aggressives Verhalten bekräftigt. Der Aggressor gewinnt, und man selbst oder andere haben Nachteile. Man selbst „handelt“ dann zwar aggressionsfrei, aber nicht der andere. Deshalb ist Passivität eine Einladung für einen gewaltbereiten Menschen, Gewalt anzuwenden, ohne große Anstrengung den anderen auszubeuten, zu verletzen oder zu töten. Der bedingungslos Aggressionsfreie wird zum leichten Opfer eines „kalten Praktikers angewandter Gewalt“ (Toch, 1969).
Dagegen zeigten Pinizzotto und Davis (1999) auf: Sobald ein Gewaltbereiter mit Tötungsabsicht den Eindruck hatte, dass der Polizist sich zur Wehr setzen könnte, wagte er keinen Angriff. Die Autoren schreiben aber auch: „Zwei Regeln bleiben wahr: Polizisten sollten jeden in der gleichen Weise behandeln, wie sie selbst gerne behandelt werden möchten, und sie sollten sich selbst schützen, sodass sie weiterhin ihre Gemeinde beschützen können“ (Pinizzotto & Davis, 1999, S. 4). Damit beschreiben sie eigentlich die TIT FOR TAT-Strategie, d.h.: Man muss freundlich sein und sich notfalls zur Wehr setzen können.
Die TIT FOR TAT-Strategie zeigt auch auf, dass man Gewalt alleine dadurch vermeiden kann, dass man dem anderen sprachlich oder durch nichtsprachliche Signale signalisiert, dass man sich feindseliges Verhalten nicht gefallen lassen wird. Die TIT FOR TAT-Strategie signalisiert deutlich: „Ich bin freundlich, ich kann mich aber wehren.“ Dadurch wird vermieden, dass unkooperative Personen das freundliche Verhalten als Schwäche fehldeuten können (s. Beggan & Messick, 1988).
Diese entschlossene Haltung der Friedfertigkeit wird sehr gut durch folgende japanische Anekdote veranschaulicht:
Ein Samurai ging zu einem Meister der Kampfkünste. Dieser sagte ihm: „Du hast wenige Fortschritte gemacht, seit ich dich zum letzten Mal sah.“ Der enttäuschte Samurai schrie: „Was willst du damit sagen? Ich bin der wildeste Samurai dieser Insel. Ich habe noch gegen niemanden im Schwertkampf verloren!“ Und der Meister erwiderte: „Aber du hast gegen dein eigenes Schwert verloren. Die höchste Kunst besteht darin, dein Schwert überhaupt nicht zu ziehen!“ „Aber wie kann ich gewinnen, ohne mein Schwert zu ziehen?,“ protestierte der Samurai. „Ich werde getötet werden!“
Später, als er in einer Wirtschaft aß, wurde er von drei jungen, angeberischen Samurai belästigt, die ihre Fähigkeiten testen wollten. Als er sie ansah und eine lästige Fliege wegscheuchte, erinnerte sich der Samurai der Worte des Meisters: „Die höchste Kunst besteht darin, überhaupt nicht das Schwert zu ziehen.“ Verwundert darüber, wie er gewinnen könnte, ohne ein Schwert zu ziehen, nahm er plötzlich seine Essstäbchen und erschlug die Fliege in der Luft. Erstaunt machten die drei jungen Samurai respektvolle Verbeugungen und verschwanden schnell (Potter, 1984, S. 55).
4. Wie kann man bei gewaltbereiten Fußballfans Gewaltfreiheit erreichen?
Die TIT FOR TAT-Strategie hat unter anderem den Vorteil, dass sie das Über- bzw. Untersteuern im Sinne Dörners (1989) verhindert, d.h. überzureagieren (z.B. mit Gewalt) oder zu wenig zu reagieren, mit Passivität. Gerade eine derartige Passivität war nicht selten der Grund dafür, dass Polizisten im Dienst verletzt oder getötet wurden (Pinizzotto & Davis, 1995).
Die TIT FOR TAT-Strategie ist vor allem „bürgernah“, weil sie gut geeignet ist, das polizeiliche Dilemma zu lösen: freundlich zu sein, ohne schwach zu erscheinen. Dies hat zwei Auswirkungen:
- Sie verhindert das Entstehen von Gewalt und
- sie baut kooperierende Beziehung auf, sogar in potenziell gewaltbereiten Umgebungen (s.a. Kap. 18).
Durch die Botschaft „Ich bin freundlich, aber nicht schwach. Wir beide haben Nutzen, wenn der Zustand des Friedens bewahrt bleibt“ wird das Entstehen eines kooperatives Klimas gefördert.
Dass die TIT FOR TAT-Strategie tatsächlich zum Aufbau einer gewaltfreien oder zumindest gewaltarmen Atmosphäre auch bei gewaltbereiten Gruppen beitragen kann, belegen folgende Erlebnisse eines deutschen Polizisten.
Nach dem Fußballspiel ging er mit seinen Kollegen privat in die Kneipe, in der sich eine Gruppe gewaltbereiter Fußballfans (Kategorie C) aufhielt. Anfänglich herrschte Misstrauen, dass die Polizei in der Fankneipe Nachforschungen anstellen würde: „Sogar hier lassen sie uns nicht in Ruhe.“ Um den privaten Charakter des Kontaktes deutlich zu machen, gaben die Polizisten den Fußballfans ein Bier aus, und man sprach miteinander, wie es in einer Kneipenatmosphäre üblich ist, auch über Fußball, aber auch über alles Mögliche. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dadurch ein Vertrauensverhältnis. Und dieses Vertrauensverhältnis förderte die Akzeptanz der Polizisten durch die Fans. Dagegen fand die von Vorgesetzten befürchtete „Verbrüderung“ zwischen den Polizisten und den Fans nicht statt. Denn die Fußballfans hatten sehr schnell den Unterschied zwischen Dienstlichem und Privatem erkannt. Und sie akzeptierten die polizeilichen Anordnungen ohne Murren, „fast schon kritiklos“. Sie sagten: „Wenn der das sagt, dann machen wir das!“ und zu jüngeren neuen Mitgliedern sagten sie: „Das ist ein Bulle, wenn der das sagt, hast du das zu machen!“
Diese Akzeptanz ergab sich daraus, dass die Polizisten – ohne dies so zu formulieren – nach der TIT FOR TAT-Strategie handelten:
1. Sie waren freundlich.
2. Sie waren gemäß spieltheoretischer Formulierung provozierbar, was konkret bedeutet: Sobald jemand abweichendes Verhalten zeigte, reagierten sie sofort angemessen.
Die Polizisten standen mit den Fußballfans im Fanblock, sie sprachen über das Spiel, bewerteten das Spiel, jubelten mit den Fans usw. Sobald aber jemand z.B. eine Leuchtrakete abschoss, wurde er rausgeholt, erhielt einen Platzverweis o.Ä. Die Fans akzeptierten das.
Folgendes Ereignis illustriert sehr anschaulich, weshalb zu den Eigenschaften der TIT FOR TAT-Strategie gehört, dass sie a) Gleichrangigkeit betont, aber selbst eine vorhandene Überlegenheit nicht demonstrativ zur Schau stellt, und dass sie b) versöhnlich ist. Versöhnlich bedeutet: Sobald man angemessen reagiert hat und die Sache erledigt ist, kann man wieder freundlich miteinander umgehen.
Ein Polizist hatte den gewalttätigen Fußballfan Willi verhaftet. Am nächsten Samstag gab der Polizist, weil er Geburtstag hatte, den Fans eine Runde Bier aus. Willi hielt sich zurück, stellte sich selbst abseits. Als der Polizist fragte: „Na, Willi, willst du kein Bier?“, sagte Willi erstaunt: „Aber du hast mich doch letzte Woche eingebuchtet!“ Der Polizist darauf: „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun! Du gehörst doch hier dazu!“
Man erkennt an diesen Beispielen, wodurch die Akzeptanz bewirkt wurde. Die Fans wussten:
„Mit denen kann man Pferde stehlen, aber die bleiben in der Sache hart.“ Sie wussten, dass die polizeiliche Arbeit konsequent durchgeführt wurde. Sie wussten aber auch, dass man sich auch mit persönlichen Problemen an die Polizisten wenden konnte.
Die Polizisten hatten die Prinzipien zum Aufbau einer vertrauensvollen Interaktion verwirklicht.
Dass dieses Vertrauensverhältnis auch nach Jahren noch anhielt, konnte einer der Polizisten erleben, als er wieder in den Fanblock ging. Ein Hooligan belästigte ihn mit den Worten: „Was will der Scheißbulle hier!?“ Darauf hin klopfte ihm einer der „alten Fans“ auf die Schulter und sagte: „Lass ihn in Ruhe. Das ist mein Kumpel!“ In einem anderen Fall hielt der gleiche Polizist den betrunkenen Kuno vor einem Fußballstadion davon ab, gewalttätig zu werden. Obwohl es sonst Kunos Art war, sofort zuzuschlagen, reagierte er nicht gewalttätig. Aber er hatte offensichtlich den Polizisten als Person gar nicht erkannt. Als der Polizist später Kuno ansprach, sagte Kuno erstaunt: „Du warst da? Ich habe dich nicht gesehen!“ Aber sein Verhalten zeigte eindeutig, dass er doch in seinem Unterbewusstsein registriert haben musste, dass er keinen Feind vor sich hatte.
Wenn ich auch weitere ähnliche Beispiele für den Aufbau einer TIT FOR TAT Kultur mit Gewaltbereiten gefunden habe, so muss doch betont werden, dass dies nicht in allen örtlichen und zeitlichen Situationen gelingen muss. Doch hat man keine andere Wahl, als es zu versuchen.
Fazit:
Selbst in einem potenziell gewaltbereiten Milieu kann ein Polizist
- seine polizeilichen Tätigkeiten vollziehen und
- sein Gefährdungspotenzial dadurch erheblich vermindern, dass er eine vertrauensvolle Kommunikation aufbaut (s. a. Kap. 18).
5. Das Machtspiel gewinnen
Der entscheidende Ansatz ist hier, sich nicht einschüchtern zu lassen. Dazu ein Bericht aus der Praxis.
Ein stadtbekannter, gewaltbereiter Schläger sollte zur Dienststelle verbracht werden. Der Polizist teilte ihm mit, dass er ihn auf die Wache begleiten müsse.
Recht höhnisch entgegnete der Schläger (jünger und deutlich größer als der Polizist und ihm eindeutig an Körperkraft überlegen): „Wie willst du kleiner Wicht mich auf die Wache bringen, dich puste ich aus dem Hemd ...!!!“
Der Polizist entgegnete ihm daraufhin – in ruhigen, freundlichen, aber deutlichen Worten (= TFT) –, dass ihm sehr wohl bekannt sei, dass sein Gegenüber
a) für sein gewalttätiges Handeln berühmt sei
b) dem Polizisten auch körperlich überlegen sein möge
c) dem Polizisten auch Schaden zufügen könne,
aber dass der Polizist
a) noch nie eine körperliche Auseinandersetzung verloren habe
b) ihn auf jeden Fall auf die Wache bringen würde, ungeachtet der eigenen Blessuren und
c) die Entscheidung, wie – und in welchem Zustand – beide auf der Wache landen würden, ihm überlassen würde.
Das Ergebnis: Mit großem Murren, aber ohne Anwendung von unmittelbarem Zwang konnte der Schläger auf die Wache verbracht werden, wo die Anschlussmaßnahmen durchgeführt wurden.
Nicht alle Interaktionen mögen derartig friedlich ablaufen und spezifisch im Umgang mit Betrunkenen dürfte es Schwierigkeiten geben (s. aber den Fall Kuno, S. 96). Aber das Entscheidende ist, dass man gemäß der TIT FOR TAT-Strategie zunächst eine friedliche Lösung versucht.
Auch im beruflichen Bereich findet man Machtspiele, die in Gewalt enden könnten. Und diese Gewalt kann sehr subtil sein und sich allmählich auch steigern.
Ein Mitarbeiter eines Betriebes zeigte u. a. folgendes unangemessenes Verhaltensrepertoire:
1. Einschüchternde nichtsprachliche Signale: „langes durchdringendes Anstarren, ohne ein Wort zu sagen“, einschüchternde Körperhaltung, Verletzung der persönlichen Distanz
2. „Freundschaftliches“ Packen von Mitarbeiterinnen
3. Psychische Aggressionen, Beleidigungen
4. Machiavellistische Taktiken: Über gezielte Informationssteuerung wurden Mitarbeiter gegeneinander ausgespielt bzw. verunsichert. Es wurden auch gezielte Lügen eingesetzt.
5. Stalking: das Beobachten, Auflauern und Bedrohen von anderen Menschen.
Wie konnte man wirkungsvoll mit diesem Mitarbeiter umgehen? Dies zeigt der Bericht einer Psychologin:
„Als ich überlegt habe, wie ich vorgegangen bin, wurde mir schnell klar, dass ich die TIT FOR TAT-Strategie – ohne sie zu kennen – benutzt habe.
Durch gezieltes Beobachten und Analysieren des Verhaltens habe ich mir nach und nach ein genaues Bild der Situation gemacht und eine Diagnose gestellt, die ich dann wiederum überprüft habe.
Sein instabiles Selbstwertgefühl erlaubte es, entsprechend der Strategie, mit gleichartigem Verhalten zu kontern. Ich merkte, dass ich ihn damit blockierte, wenn ich mit seinem Verhalten antwortete. So begann ich auf Angriffe mit Angriffen und auf friedliches Verhalten mit friedlichem Verhalten zu antworten. Er erlaubte sich mir gegenüber zunehmend weniger, ohne dass ich eine wachsende Aggressionsbereitschaft in Bezug auf meine Person wahrnehmen konnte.“