Einsatzkompetenz lässt sich definieren als die Gesamtheit an persönlichen Merkmalen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Polizeibe- amter zur Verfügung hat, um Einsatzsituationen zu bewältigen, wobei seine Einsatzkompetenz umso bedeutsamer wird, je kritischer die Situation ist. Kritisch ist immer der Moment, in dem sich entscheidet, welchen weiteren Verlauf ein Einsatz nimmt. Da Einsatzsituationen grundsätzlich Risikositua- tionen sind, entscheidet Einsatzkompetenz in besonders kritischen Fällen nicht nur über den Einsatzerfolg, sondern hilft zu überleben. Die Kompetenz setzt sich zusammen aus Persönlichkeitsmerkmalen, Einflüssen des dienst- lichen Umfeldes, der Einstellung zum Beruf, der Funktionsweisen innerpsy- chischer Abläufe im Wahrnehmen, Denken und Empfinden und schließlich der Fertigkeiten im Einsatzhandeln. Erworben wird Einsatzkompetenz im Rahmen der polizeilichen Sozialisation, aber vor allem in Einsatztrainings, die explizit Einsatzverhalten in kritischen Situationen einüben.
Fallbeispiel
An der Auffahrt zur Autobahn wird wieder einmal eine Schwerpunktaktion „Verkehrskontrollen“ durchgeführt. Der Einsatz ist Routine. Die Abläufe gleichen sich: Anhaltung, Grußformel und Frage nach den Fahrzeugpapieren, gleichzeitig Beobachtung der Fahrzeuginsassen und Anscheinprüfung beim Fahrer, inwieweit Trunkenheit oder andere Auffälligkeiten vorliegen könnten. Dass es manchmal zu Störungen kommt, etwa zur Weigerung, die Papiere zu zeigen, lernt schon der angehende Polizeibeamte in seiner Ausbildung. Er lernt auch in interaktiven Einsatztrainings am eigenen Leib, dass es unter den Autofahrern skrupellose Rechtsbrecher geben kann, die sich den Fluchtweg freischießen, weil sie zur Festnahme ausgeschrieben sind oder das Heroin im Kofferraum besser unentdeckt bleibt. Aber schnell hakt er solche Einsatzszenarien als extreme Ausnahmesituationen ab, die viel mehr der Übungskünstlichkeit des Trainings entsprechen als der Realität des Dienstes auf der Straße. Denn dort lernt er nach der Ausbildung in seinen täglichen Routineeinsätzen, dass die meisten Leute die Anordnungen der Polizei doch befolgen, manche zwar widerwillig oder begleitet von dummen Bemerkungen, aber letztlich doch der polizeilichen Autorität gehorchend. Und dann kommt es an der Auffahrt zur Autobahn dieses eine Mal doch ganz anders: Der Polizeibeamte nähert sich dem angehaltenen Fahrzeug, er grüßt und verlangt die Papiere, der Fahrer erklärt freundlich, die habe er in der Reisetasche hinten im Kofferraum. Also steigt er aus, lächelt, geht nach hinten und öffnet seine Tasche. Im nächsten Moment aber starrt der Polizeibeamte in die Mündung einer Schusswaffe …
Die tägliche Polizeiarbeit im Wach- und Streifendienst lässt sich als Risikohandeln beschreiben. Selbst Routineverrichtungen wie die Anhaltung eines Verkehrsteilnehmers können in schwierige bis lebensbedrohliche Lagen umschlagen. An jedem Entscheidungspunkt eines beliebigen Einsatzes, also beispielsweise der Frage, ob man ein bestimmtes Fahrzeug anhält, wie man den angehaltenen Fahrzeugführer ansprechen will, was zu tun ist, wenn sich der Fahrer weigert, die geforderten Fahrzeugpapiere vorzuzeigen, bis hin zu den Handlungsoptionen im Fall, dass anstelle der Papiere eine Waffe gezogen wird, ergeben sich Konstellationen, die zu kritischen Situationen werden. Kritische Situationen (Badke-Schaub, Buerschaper & Hofinger, 1999) sind also kurzzeitige Konstellationen, in denen es sich entscheidet, welchen Verlauf eine Sache (z. B. ein Einsatz) nimmt und wie die Sache ausgeht. Solche Situationen sind nicht in allen Details planbar. Oft nehmen sie eine neue oder überraschende Wendung. Je überraschender oder erwartungswidriger sich dann die Einsatzlage entwickelt, desto mehr muss der Polizeibeamte auf etwas zugreifen können, was man als Einsatzkompetenz umschreiben könnte. Bei einem gesetzestreuen und folgsamen Autofahrer mag etwas Fachkompetenz mit entsprechend rechtlichem Wissen und etwas soziale Kompetenz mit entsprechend kommunikativem Geschick ausreichen, um eine Anhaltung und Fahrzeugkontrolle professionell und erfolgreich auszuführen. Je mehr Schwierigkeiten aber auftreten, je kritischer sich die Situation an einem Entscheidungspunkt darstellt, desto stärker ist der Polizeibeamte auf zusätzliche Ressourcen angewiesen. Dann braucht er Einsatzkompetenz.
Man könnte Einsatzkompetenz definieren als die Gesamtheit an persönlichen Merkmalen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Polizeibeamter zur Verfügung hat, um Einsatzsituationen zu bewältigen, wobei seine Einsatzkompetenz umso bedeutsamer wird, je kritischer die Situation ist. Im Extremfall ist sie lebensrettend. Unser Eingangsbeispiel deutet eine solche Extremsituation an. Was aber macht Einsatzkompetenz aus?
Abbildung 1 liefert eine Modellvorstellung. Danach legen sich die einzelnen Komponenten der Einsatzkompetenz schichtenförmig um einen Persönlichkeitskern. Sie umfassen Aspekte des dienstlichen Umfeldes und der Einstellung zum Beruf, ferner Funktionsweisen innerpsychischer Abläufe wie Wahrnehmungs-, Denk- und emotionale Prozesse und schließlich Fertigkeiten auf der Ebene des konkreten Einsatzhandelns. Jede Schicht steuert spezifische Teilkompetenzen bei, die zusammen im Idealfall den einsatzkompetenten Beamten ausmachen.
Persönlichkeitsmerkmale
Die Merkmale zu benennen, die jede Schicht beitragen kann, damit sich Einsatzkompetenz konstituiert, ist letztlich die Aufgabe noch ausstehender Forschung. Schmalzl (2008) hat in der Darstellung seines Einsatzkompetenz-Modells einige begründete Annahmen gemacht. So drängen sich gewisse berufs- bzw. einsatzrelevante Persönlichkeitsmerkmale auf, die ein junger Mensch beim Eintritt in den Polizeidienst zumindest ansatzweise mitbringen sollte. Dazu gehören Selbstsicherheit und die Fähigkeit, sich auf neuartige Situationen ohne übergroße Ängstlichkeit einstellen und dabei Mehrdeutigkeiten aushalten zu können. Psychologisch spricht man von Selbstwirksamkeitserwartung, mentaler Flexibilität und Ambiguitätstole- ranz. Zur nächsten Schicht, dem beruflichen Umfeld, gehören nicht nur die Vorschriften und Regularien des Dienstbetriebs, die formale Aus- und Fortbildung etc., sondern auch das informelle Regelwerk auf den Dienststellen und die Gruppenprozesse in der Kollegenschaft. Beide Kulturen, die formale Polizeikultur und die informelle Polizistenkultur (Behr, 2000), sollten Persönlichkeitseigenschaften wie die oben genannten fördern und gleich- zeitig die Basis bilden für positive Berufseinstellungen und Motivlagen. Einsatzkompetenz gedeiht nur auf der Grundlage von Engagement und der Bereitschaft, sich beruflich weiterzuentwickeln und die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vervollkommnen.
Innerpsychische Prozesse
Persönlichkeit, berufliches Umfeld und die Einstellung und Motivation zum Beruf haben ihrerseits Einfluss auf die innerpsychischen Prozesse unmittelbar vor, während und nach einem Einsatz. Was man dort wahrnimmt, fühlt und denkt, ist entscheidend für das eigentliche Einsatzhandeln, weshalb diese perzeptiven, emotiven und kognitiven Prozesse als eigener Faktor (vierte Schicht) gelten können. Die Vorstellung von der Situation, dann die Wahrnehmung in der Situation, die Informationsaufnahme und -verarbeitung, die emotionalen Begleitfunktionen, schließlich die Denk- und Entscheidungsvorgänge, alle diese innerpsychischen Abläufe sind handlungsvorbereitend und handlungsbestimmend. Hier zeigt sich, welche Reaktion als erste erfolgt und welcher Handlungsablauf initiiert wird. In unserem Eingangsbeispiel kann es dem einsatzinkompetenten Beamten passieren, dass er vor Schreck und Ratlosigkeit handlungsunfähig wird, während der einsatzkompetente Beamte Deckung sucht, gleichzeitig seine Dienstwaffe zieht, jedenfalls auf Handlungsoptionen zurückgreifen kann, die er mental einstudiert, in Trainings eingeübt und so verfügbar hat. Mentale Beschäftigung und Training führen nämlich zu neuen neuronalen Verschaltungen im Gehirn, die in der Extremsituation aktiviert werden (Schmalzl, 2011). Hinzu kommen die innerpsychischen Vorgänge nach Einsatzende, also die Verarbeitung des Erlebten, kognitive Umstrukturierungen und Lerneffekte bis hin zum Umgang mit Belastungen und Trauma-Reaktionen (® Schusswaffengebrauch; ® Posttraumatische Belastungsstörung).
Die fünfte und letzte Schicht (im Modell die äußere, sichtbare Kugeloberfläche) beschreibt das konkrete Einsatzverhalten, das einige Kriterien erfüllen muss, um als kompetentes Einsatzhandeln zu gelten. Die wesentlichen Kriterien orientieren sich an Fragen wie diesen: Hat der Polizeibeamte sich selbst im Griff, kann er sein eigenes Verhalten steuern? Übernimmt er die Führung und Kontrolle in der Situation? Konzentriert er sich auf die Bewältigung der Aufgabe? Harmoniert und kooperiert er mit dem Streifenpartner? Übrigens beeinflussen sich die Schichten wechselseitig. Eine entwicklungsfähige Persönlichkeitsstruktur wird bei günstigen Bedingungen des beruflichen Umfeldes zu positiven Grundeinstellungen führen, welche die Voraussetzungen für die Herausbildung und Aktivierung situationsangemessener innerpsychischer Abläufe schaffen, die ihrerseits die richtigen Handlungsschritte in Gang setzen. Und andersherum: Handlungserfolg im Einsatz stabilisiert und optimiert die innerpsychischen Abläufe, was sich wiederum positiv auf berufsbezogene Einstellungen auswirkt, die ihrerseits dazu angetan sind, im beruflichen Umfeld die positiven Aspekte zu entdecken, welche schließlich auch eine günstige Persönlichkeitsentwicklung fördern.
Teil 2 inkl. Literaturhinweisen folgt.