RICHARD BOORBERG VERLAG

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04.02.2019

Steffen Liebendörfer

Eine neue Verfassung für das Digitalzeitalter?

Technischer Fortschritt als Anlass zur Neugestaltung des Gemeinwesens

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Mit der Digitalisierung geht die größte Veränderung einher, die es in diesem Land mindestens seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. In ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und alle Lebensbereiche übertrifft die Digitalisierung sogar die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands vor knapp 30 Jahren. Sie könnte zum Anwendungsfall des Artikels 146 des Grundgesetzes werden.

Das Organisationsstatut des Grundgesetzes gehört auf den Prüfstand

„Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“, so besagt es ein Spruch, der mit leicht zynischem Zungenschlag die Notwendigkeit beständiger Anpassung an veränderte Verhältnisse beschreibt. Diese Aussage trifft auch auf die verschiedenen Erscheinungsformen organisierten menschlichen Zusammenlebens zu. Die Notwendigkeit der Anpassung macht vor der komplexesten Organisation des Zusammenlebens – dem Staat – nicht Halt.

Das deutsche Grundgesetz, einst als Provisorium und Transitorium bezeichnet, hat sich in fast sieben Jahrzehnten als anpassungsfähige Grundlage unseres Gemeinwesens erwiesen: Selbst die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als größte Herausforderung, die der deutsche Staat unter der Geltung des Grundgesetzes zu bewältigen hatte, machte es nicht notwendig, eine neue Verfassung zu schaffen – wenngleich es solche Forderungen gegeben hat. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ist bereits über 230 Jahre alt. Das Verfahren sie zu ändern (präziser wäre es von „erweitern“ zu sprechen), ist noch deutlich aufwendiger als eine Änderung des Grundgesetzes. Beide Verfassungen haben gesellschaftliche und technologische Veränderungen überdauert; dazu zählt die Mondlandung ebenso wie die Erfindung des Internets. Beide Verfassungen – wie alle anderen weltweit auch – sind allerdings Erzeugnisse aus dem Analogzeitalter. Die grundgesetzliche Werteordnung setzt auch im 21. Jahrhundert Maßstäbe, das Organisationsstatut des Grundgesetzes hingegen gehört auf den Prüfstand.

Soweit ersichtlich hat niemand bisher die Frage gestellt, ob die etablierten staatlichen und rechtlichen Systeme langfristig im Wesentlichen beibehalten werden können – oder sollen – angesichts des sich vollziehenden Überganges vom analogen in das digitale Zeitalter. Die bisherigen Bemühungen um Anpassung haben überwiegend den Bereich des einfachen Gesetzesrechts und untergesetzlicher Normen betroffen, das Grundgesetz ist – von sehr dezenten Änderungen im Bereich der föderalen Kompetenzordnung (ein Beispiel ist der Artikel 91c des Grundgesetzes) abgesehen – nicht angetastet worden. Dabei muss es erlaubt sein, die Frage zu stellen, welch durchschlagender Erfolg den Bemühungen um Digitalisierung in Verwaltung und Justiz wohl beschieden sein mag, wenn das Grundgesetz in seinem Artikel 82 Abs. 1 vorschreibt, dass Gesetze durch den Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Warum traut man dem Bundespräsidenten nicht zu, dass er in der Lage ist, ein nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenes Gesetz in einer Datenbank freizuschalten? Zwar könnte man auf die Idee kommen, im Wege der Auslegung und in Ansehung des Verfassungswandels auch ein digitales Medium unter den Begriff „Bundesgesetzblatt“ zu subsumieren. Doch wenn Digitalisierung nicht nur halbherzig akzeptiert, sondern wirklich gewollt ist, dann bedarf es auch einer begrifflichen Abgrenzung gegenüber dem Analogzeitalter. In den Bundesländern und auf kommunaler Ebene sieht es nicht besser aus! Auch dort wird eine Fixierung auf analoge Medien kultiviert, die völlig aus der Zeit gefallen ist. [Anmerkung des Verfassers: Nach Abschluss dieses Beitrages berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf faz.net am 23.12.2018 über die Ankündigung der Bundesjustizministerin, dass ab 2022 ein elektronisches Bundesgesetzblatt zur ausschließlich digitalen Verkündung von Gesetzen und Verordnungen geschaffen werden soll. Ob damit die hier geforderte begriffliche Abgrenzung eingehergeht, wird sich zeigen, sobald der Entwurf für ein hierfür erforderliches Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vorliegt. Link: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/justizministerin-barley-nimmt-dumont-verlag-das-gesetzblatt-weg-15957231.html?GEPC=s9; letzter Abruf am 04.01.2019]

Im alltäglichen Rechtsverkehr ist die Fixierung auf das Analoge ebenfalls wahrnehmbar. Es scheint eine ebenso diffuse wie verbreitete Vorstellung zu geben, dass analoge Medien gegenüber digitalen Daten irgendwie überlegen sein sollen. Das mag nach gegenwärtiger Rechtslage und -anwendung der Fall sein. Indessen ist dies nicht Folge einer Art juristisch-qualitativer Überlegenheit, sondern ein rechtskulturelles Phänomen. Eine der Hauptsorgen im Rahmen der Bemühungen um eine Digitalisierung von Verwaltung und Justiz gilt daher der digitalen Nachbildung von Erfordernissen der Schriftform oder einer Urkunde. Das Ergebnis ist dann allerdings nicht Erneuerung und Verbesserung durch Digitalisierung, sondern die digitale Nachbildung des Analogen. Die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung werden so keinesfalls ausgeschöpft; vielmehr wird eine Rechtskultur gepflegt, die von einem jedenfalls nicht durchweg positiven Menschenbild ausgeht...[mehr]

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