I. Ausgangsfall
Die Gemeinde stellt im Jahr 2017 eine im Bebauungsplan ausgewiesene, etwa 35.000 qm große (selbstständige) Grünanlage erstmalig endgültig her, die unstreitig zur Erschließung des vom Bebauungsplan erfassten Baugebiets i. S. d. § 127 Abs. 2 Nr. 4 BauGB (Art. 5a Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 BayKAG) notwendig ist. Herr E, dessen Grundstück ca. 150 m von der Grünanlage entfernt liegt, begehrt die Aufhebung des an ihn gerichteten Erschließungsbeitragsbescheids und macht geltend: Die Grünanlage vermittele keinen Erschließungsvorteil und mangels eines Erschließungsvorteils könne er nicht zu einem Erschließungsbeitrag herangezogen werden. Das OVG Lüneburg habe noch im Beschluss vom 11.10.2018 (9 LA 37/18) ausdrücklich betont: „Der Erschließungsvorteil besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem, was die Erschließung für die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit (Nutzung) des Grundstücks hergibt“. Da die Grünanlage nichts für die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit (Nutzung) seines schon seit 1980 in vollem Umfang baulich ausgenutzten Grundstücks hergebe, unterliege sein Grundstück nicht der Beitragspflicht für diese Erschließungsanlage. Dieses Vorbringen lenkt den Blick auf den Begriff des Erschließungsvorteils.
II. Entwicklung des Vorteilsbegriffs
Dem Begriff des Erschließungsvorteils kommt zentrale Bedeutung zu, sowohl im Rahmen des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB für die Ermittlung der durch eine erstmalig endgültig hergestellte beitragsfähige Erschließungsanlage erschlossenen Grundstücke als auch im Rahmen des § 131 Abs. 2 und 3 BauGB für eine vorteilsgerechte Verteilung des für eine solche Anlage entstandenen umlagefähigen Aufwands. Hier wie dort steht die Beantwortung der Frage im Mittelpunkt, worin der Erschließungsvorteil besteht oder worauf er beruht, wie der Begriff „Erschließungsvorteil“ zu verstehen ist.
1. Baurechtlicher und beitragsrechtlicher Vorteilsbegriff
Das zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Erschließungsvorteil“ letztinstanzlich berufene Bundesverwaltungsgericht ist zunächst von einem vornehmlich auf Anbaustraßen i. S. d. § 127 Abs. 2 Satz 1 BauGB ausgerichteten Ansatz ausgegangen. Der in den 1970iger Jahren für Entscheidungen von Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Erschließungsbeitragsrechts zuständige 4. (Bau-)Senat hat angenommen, der Erschließungsvorteil bestehe in eben der Erschließung eines Grundstücks oder „genauer: in dem, was die Erschließung für die bauliche (oder gewerbliche) Nutzbarkeit des betreffenden Grundstücks“ ausmacht; der maßgebliche Erschließungsvorteil sei daher „der Sache nach daran zu messen, was die Erschließung für die bauliche oder gewerbliche Nutzung hergibt“ (Urteil vom 25.2.1977 – 4 C 35.74 – NJW 1977,1549 = DVBl 1978,297). Bei diesem baurechtlichen Vorteilsbegriff muss – um beispielhaft darauf abzuheben – für eine vorteilsgerechte Verteilung des umlagefähigen Erschließungsaufwands von der Gemeinde eine (Maßstabs-)Regelung gewählt werden, die die Beitragshöhe an das Ausmaß der durch die hergestellte Erschließungsanlage ermöglichten baulichen Nutzbarkeit bindet.
Nach dem Übergang der Zuständigkeit in erschließungsbeitragsrechtlichen Rechtsstreitigkeiten auf den 8. (Abgaben-)Senat Anfang der 1980iger Jahre, ist an die Stelle der mehr baurechtlichen eine beitragsrechtlich geprägte Betrachtungsweise getreten. Der daraus resultierende beitragsrechtliche Vorteilsbegriff stellt maßgeblich ab auf die durch die erstmalige Herstellung einer beitragsfähigen Erschließungsanlage von einem Grundstück aus eröffnete – durch dessen räumliche Nähe zur Anlage qualifizierte – Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme; auf seiner Grundlage richtet sich das Ausmaß des einem Grundstück vermittelten Erschließungsvorteils nach dem Ausmaß der von ihm aus zu erwartenden (wahrscheinlichen) Inanspruchnahme der hergestellten Erschließungsanlage (u. a. Urteil vom 9.12.1994 – 8 C 6.93 – NVwZ 1995,1218 = KStZ 1996,73). Folglich muss – um wiederum diesen Aspekt zu betrachten – für eine vorteilsgerechte Aufwandsverteilung angeknüpft werden an Kriterien, die einen Rückschluss zulassen auf den voraussichtlichen Umfang der vom jeweiligen Grundstück ausgelösten Inanspruchnahme der betreffenden Anlage.
Offenbar ohne den Wechsel vom baurechtlichen zum beitragsrechtlichen Vorteilsbegriff in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wahrgenommen zu haben, ist der nunmehr zuständige 9. Senat dieses Gerichts in seinem Urteil vom 1.9.2004 (9 C 15.03 – NVwZ 2005,1502 = DVBl 2005,55) mit der unzutreffenden Bemerkung zum baurechtlichen Vorteilsbegriff des 4. Senats zurückgekehrt, der Erschließungsvorteil bestehe „nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem, was die Erschließung für die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit des Grundstücks hergibt“. Soweit der 9. Senat im Beschluss vom 26.4.2006 (9 C 1.06 – NVwZ 2006,935 = HSGZ 2006,297) meint, es sei nicht zu erkennen, „dass der Begriff des Erschließungsvorteils vom Bundesverwaltungsgericht jemals grundlegend anders“ als im Sinne des baurechtlichen Vorteilsbegriffs gedeutet worden wäre, steht er damit allerdings – nahezu – allein. In der obergerichtlichen Rechtsprechung (statt vieler VGH Mannheim, Urteil vom 26.9.2003 – 2 S 793/03 – KStZ 2004,18 = DÖV 2004,258, und VGH München, Urteil vom 16.6.2004 – 6 B 00.1563) ist der in Rede stehende Rechtsprechungswandel fast durchgängig, in der Literatur (u. a. Klausing in FS Driehaus, S. 88, und Waibl BayVBl 2005,250) jedenfalls weitestgehend als solcher qualifiziert worden. So heißt es beispielsweise im Urteil des OVG Bautzen vom 22.8.2001 (5 B 521/00), „nach dem Übergang der Zuständigkeit in erschließungsbeitragsrechtlichen Rechtsstreitigkeiten auf den 8. Senat Anfang der 1980iger Jahre ist an die Stelle der mehr baurechtlichen eine beitragsrechtlich geprägte Betrachtungsweise getreten“. Und Eiding (in Spannowsky/Uechtritz, BauGB, § 131 Rn. 26) formuliert, warum der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Rechtsprechung des 8. Senats „verlassen hat, ist nicht ohne Weiteres klar und wird auch durch“ seine „Entscheidungen nicht deutlich. Jedenfalls erscheint die Aufgabe eines bewährten Systems nicht ohne Weiteres einleuchtend“.
Es liegt auf der Hand, dass der baurechtliche Vorteilsbegriff sowohl für eine Beantwortung der Frage nach den durch eine erstmalig hergestellte beitragsfähige Erschließungsanlage erschlossenen Grundstücken als auch für eine vorteilsgerechte Verteilung des umlagefähigen Erschließungsaufwands nur von Belang sein kann bei Anlagen, die etwas für die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit von Grundstücken herzugeben in der Lage sind, bei Anlagen also, die eine solche Nutzbarkeit erst ermöglichen, die – mit anderen Worten – bebauungsrechtlich Voraussetzung für eine solche Nutzbarkeit von Grundstücken sind. Das trifft zweifelsfrei einzig auf zum Anbau bestimmte Erschließungsanlagen (sowie – eingeschränkt – auf unbefahrbare Wohnwege) zu, nicht aber auch auf beitragsfähige Erschließungsanlagen im Sinne des § 127 Abs. 2 Nrn. 3 bis 5 BauGB (Art. 5a Abs. 3 bis 5 BayKAG) wie insbesondere (selbstständige) Grünanlagen (ebenso u. a. Schmitz, Erschließungsbeiträge, § 3 Rn. 5). Mit Blick auf die letzteren beitragsfähigen Erschließungsanlagen – abgesehen von Lärmschutzanlagen, für die das Ausmaß der bewirkten Schallminderung maßgebend ist – kommt deshalb sowohl für die Beantwortung der Frage nach den erschlossenen Grundstücken als auch für eine vorteilsgerechte Verteilung des umlagefähigen Erschließungsaufwands allein eine auf die (qualifizierte) Möglichkeit einer Inanspruchnahme abhebende, d. h. eine an den beitragsrechtlichen Vorteilsbegriff anknüpfende Orientierung in Betracht.
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